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Auf dem Weg zur Klingel 2.0

  • 30. Juli 2025
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Als Matthäus Siedle 1750 eine Gießerei auf seinem Schwarzwaldhof startete, gab es weder Elektrizität noch Dampf­maschinen. Er produzierte Glocken und Gussteile für die Uhrenmanufaktur. Seine Nachfahren bauten ab 1870 in Furtwangen eine Fabrik für Telegrafen- und Telefontechnik. Später avancierten die S. Siedle & Söhne Werke zum Marktführer für Türsprechanlagen. Jetzt steht Furtwangens ältestes Industrieunternehmen vor der nächsten Transformation.

Text: Kathrin Ermert • Fotos: Alex Dietrich

Das Gerüst ist weitestgehend abgebaut und die Fassade des Hauptsitzes rechtzeitig zum 275. Jubiläum frisch renoviert. Der Umbau dahinter geht indes weiter. Siedle ist dabei, sein Kerngeschäft technologisch auf neue Füße zu stellen. Daran hat das Unternehmen in den zurückliegenden zwei Jahren intensiv gearbeitet. Das Ergebnis heißt Siedle IQ und ist eine unspektakulär wirkende kleine Sprechanlage mit Videokamera, die aber viel kann. Sie bietet vielfältige digitale, cloudbasierte Services samt eigener Plattform und zugehöriger App.

„Siedle hat so lange überlebt, weil es sich immer wieder neu erfunden hat. Das tun wir jetzt wieder.“ — Peter Strobel

Siedle IQ soll die analoge mit der digitalen Welt verknüpfen. Er hat eine große strategische Bedeutung für das Unternehmen, dem zuletzt Internetgiganten wie Google und Amazon Konkurrenz machten. „Siedle hat so lange überlebt, weil es sich immer wieder neu erfunden hat. Das tun wir jetzt wieder“, sagt Peter Strobel, der seit zwei Jahren gemeinsam mit Jochen Cura und Christoph Weber die erste familienexterne Geschäftsführung bildet. Die drei haben 2023 Gabriele Siedle an der Firmenspitze abgelöst, die noch Vorständin der Siedle-Familienstiftung und Geschäftsführerin der Holding ist. Die zweite Frau von Horst Siedle (1930-2019) hatte das Unternehmen zunächst zusammen mit ihrem Mann und ab 2005 wegen dessen Erkrankung allein geführt. Horst Siedle, der die Geschäftsführung 1970 in neunter Generation übernommen hatte, trieb die Entwicklung des Unternehmens voran. Seine Frau und er gelten als Architekten des auf Qualität und Design beruhenden Erfolgs.

In Furtwangen entstehen die Leiterplatten der Türsprechanlagen in einer vollautomatischen Fertigungsstraße. Ehe sie in die Endmontage kommen, wird jede einzelne Leiterplatte geprüft.

Den will das neue Führungstrio fortschreiben und Siedle auf der Reise von Tradition zu Transformation begleiten. „Es ist wie bei Raumschiff Enterprise: Wir müssen dorthin, wo noch nie ein Mensch zuvor war“, sagt Peter Strobel, dem noch ein weiterer Filmtitel einfällt, um die aktuellen Herausforderungen zu beschreiben: „Everything, everywhere, all at once“. Viele Veränderungen auf allen Ebenen in kurzer Zeit. Bei den Produkten gleichermaßen wie bei der Unternehmenskultur, die hierarchisch geprägt ist und sich neuen, agilen Arbeitsweisen öffnen soll. Man merkt: Die Geschäftsführer haben sich viel mit dem Thema beschäftigt. Strobel spricht von Ambidextrie, also Beidhändigkeit, die in vielerlei Hinsicht gefragt sei. Es gelte, das Kerngeschäft weiter erfolgreich zu betreiben und gleichzeitig neue Geschäftsfelder zu erschließen. Die Software wird immer wichtiger, aber die Hardware soll weiterhin die Fabrik auslasten.

Serienproduktion und Einzelfertigung

Die Produktion mitten in Furtwangen verteilt sich über fünf Stockwerke. Man muss viele Treppen rauf- und runtergehen, um sie zu besichtigen. Neulinge brauchen eine Weile, bis sie sich orientieren können. „Die Struktur ist so gewachsen“, sagt Produktionsleiter Daniel Rauer beim Rundgang. „Es kommen ja immer neue Module und Produkte hinzu.“ Siedle praktiziert eine Mischung aus Serienproduktion und Einzelanfertigung. Individuell sind vor allem die Türstationen, also der äußere Teil, die Innenstationen sind standardisierter. Es gibt mehrere Serien mit unglaublich vielen Varianten: verschiedene Oberflächen, Farben, Formen und Lautsprecher, mit oder ohne Briefkasten, Kamera oder Touchscreen. Wegen der großen Zahl unterschiedlicher Bedienungsanleitungen betreibt das Unternehmen sogar eine eigene kleine Druckerei. Wer bei Siedle anfängt, egal in welcher Abteilung, startet mit einer dreitägigen Produktschulung.

Bislang entstehen 80 Prozent der Wertschöpfung in Furtwangen, auch elektronische Bauteile wie Netzgeräte, Trafos und das Herz der Anlagen, die Leiterplatten. Im dritten Stock des Hauptgebäudes laufen sie durch eine Fertigungsstraße, werden vollautomatisch mit Lötpaste versehen und mit bis zu 27.000 Elektronikbauteilen bestückt. Jede einzelne Leiterplatte wird geprüft, ehe sie in die Endmontage im vierten OG kommt. Die ist weitestgehend Handarbeit.

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Siedle produziert eine riesige Vielfalt von Varianten mit verschiedenen Oberflächen, Farben, Formen und Lautsprechern, mit oder ohne Briefkasten, Kamera oder Touchscreen. Im neuen EMV-Labor testet Siedle die für alle Funkgeräte verpflichtende elektromagnetische Verträglichkeit. Die Winkekatze kommt bei der Prüfung von Digitalkameras auf Störfestigkeit zum Einsatz..

In den unteren Etagen werden die Metallteile für die Standardkomponenten gestanzt, gebogen und geschweißt. Dafür gibt es unterschiedliche Materialien, variable Oberflächen und verschiedene Farben. Im Erdgeschoss erhalten die Gegensprechanlagen den Bestellungen entsprechend auf Wunsch gelaserte, gedruckte oder geklebte Straßennamen und Hausnummern. Im Keller geht es zu wie bei Stiftung Warentest. Hier prüfen Dominik Löffler und seine Kollegen aus der Qualitätstechnik Prototypen auf Herz und Nieren, ehe sie in Serie gehen. In Klimaschränken, Sprühanlagen sowie beim Schock- und Tastentest müssen vor allem die Türstationen beweisen, dass sie langem Gebrauch ebenso standhalten wie großer Hitze und Kälte, hoher Luftfeuchtigkeit, starkem Regen oder einem holprigen Transport. In einem noch recht neuen Labor prüft Siedle zudem die für alle Funktechnikgeräte verpflichtende elektromagnetische Verträglichkeit (EMV) und Akustik der eigenen Geräte und bietet dies auch externen Kunden an. Die Dienstleistung erfreut sich guter Nachfrage.

Werte und Visionen

Die aufwendigen Tests zeigen den hohen Qualitätsanspruch des Unternehmens: Siedle-Produkte sollen Investitions-, keine Konsumgüter sein, also jahrzehntelang halten. So steht es in den Werten und Visionen, die Siedle 2006 für sich formuliert hat, und die eine Art Bibel des Unternehmens sind. Die Langlebigkeit erklärt zugleich die Bedeutung des reduzierten, zeitlosen Designs, für das sich Horst und Gabriele Siedle sehr engagiert haben, und das ein Grund ist, warum man Produkte aus Furtwangen auch an Türen in Großstädten weltweit findet, beispielsweise am GM-Hauptquartier in Detroit oder an der Nationaloper in Oslo. „Unsere Anlagen bieten viel Gestaltungsraum, deshalb finden Architekten uns gut“, sagt Kommunikationschefin Irina Weiß.

Nichtsdestotrotz ist der Export, der weniger als ein Fünftel zum Umsatz beiträgt, noch ausbaufähig ebenso wie das Projektgeschäft, also große Gebäude mit vielen Eingängen und komplexen Systemen. An zusätzlichen Absatzmärkten arbeitet die neue Geschäftsführung parallel zur Transformation. Eine Motivation für all diese Veränderungen ist die soziale Verantwortung, die auch einer der niedergeschriebenen Firmenwerte ist. „Siedle bleibt in Furtwangen, vermeidet Entlassungen und beteiligt die Mitarbeiter am Unternehmenserfolg“, heißt es im Unternehmensleitbild. Umgekehrt gilt: „Siedleaner setzen ihr ganzes Können und Wissen für und an ihrem Arbeitsplatz ein.“ Rund 330 sogenannter Siedleaner arbeiten in Furtwangen, weitere 100 im Außendient sowie in den Vertriebsstätten in der Schweiz, den Beneluxländern und Skandinavien. Zur Firmengruppe, die insgesamt rund 1000 Köpfe zählt, gehören zudem die K+E Kunststofffertigung im benachbarten Mönchweiler und zwei Sensorenhersteller im Schwäbischen sowie in der Schweiz.

Peter Strobel

„Es ist wie bei Raumschiff Enterprise: Wir müssen dorthin, wo vorher noch nie ein Mensch war.“ — Peter Strobel

Das wirtschaftliche Umfeld, in dem Siedles Metamorphose stattfindet, ist herausfordernd. Die zurückliegenden Jahre waren nicht einfach für das Unternehmen. Das liegt an der Baukonjunktur, die jetzt das dritte Jahr in Folge schwächelt. Zudem beendete der Ukrainekrieg 2022 das gerade entstehende Russlandgeschäft. Aktuell befürchtet man in Furtwangen ein Déjà-vu in den USA. Dennoch ist das Unternehmen zuletzt gewachsen. Der Umsatz legte 2024 um 5,6 Prozent auf rund 77 Millionen Euro zu, der Absatz stieg um 3,7 – „noch ohne die neuen Produkte“, betont Peter Strobel. Als Grund für den Erfolg sieht er die gestärkte Vertriebsstruktur und das neue Marketingkonzept, das beispielsweise auf Social-Media-Kampagnen setzt und junge Elektroniker mit Influencern anspricht. Die Marke Siedle sei stark, aber sie brauche eine Auffrischung.

Im September kommt der Siedle IQ auf den Markt. Alle im Unternehmen sind sehr gespannt, ob das kleine Gerät die großen Erwartungen als Wegbereiter in die Zukunft einlöst.

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