Auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein ist ein neues Bauwerk entstanden: das Doshi Retreat, benannt nach seinem Schöpfer, dem indischen Architekten Balkrishna Doshi. Ein Rückzugsort.
Text: Christine Weis • Fotos: Santiago Fanego
Es stürmt und regnet, die Wolkendecke ist mächtig. Doch als hätte sich der Himmel bereit erklärt zur Eröffnung des Doshi Retreats einige Sonnenstrahlen durchzulassen, klart es an diesem Nachmittag Ende Oktober plötzlich auf. Gut so, denn das neue Gebäude samt dazugehörigem Weg sind nicht überdacht. Zwischen dem Konferenzpavillon von Tadao Ando, der Produktionshalle von Nicholas Grimshaw und dem Design Museum von Frank Gehry erhebt sich ein sanft modellierter Grashügel, durchzogen von zwei Wegen, eingefasst in orange-braun schimmernden Stahl. Diese verschlungenen Pfade führen, von meditativen Klängen begleitet, zu einer trichterförmigen Skulptur. Diese betritt man durch einen Tunnel, an dessen Ende sich eine steinerne runde Plattform öffnet. Sie ist umgeben von einem Regenwasserbecken, in der Mitte hängt ein großer Gong, darüber schwebt eine verzierte Messingscheibe. Auch hier erklingen meditative Töne.

Ein ruhiger Akzent der Architektur
Das Doshi Retreat bietet eine neue Facette inmitten der architektonischen Ikonenlandschaft auf dem Campus in Weil am Rhein. Seit den 1980er-Jahren lässt Vitra hier außergewöhnliche Bauten und Skulpturen von berühmten Architektinnen, Architekten und Kunstschaffenden errichten: Museum, Schaudepot, Produktions- und Konferenzhallen, das Vitrahaus mit seinen aufeinandergestapelten Giebelhäusern, den Rutschturm, eine Tankstelle oder den Staudengarten des niederländischen Landschaftsdesigners Piet Oudolf. Rolf Fehlbaum, Chairman Emeritus von Vitra, erläutert bei der Pressekonferenz die Veränderung in zurückliegenden Jahren: „Obwohl der Campus nach wie vor ein Industriestandort ist, hat er sich zu einem öffentlichen Park entwickelt, der jährlich 400.000 Besucherinnen und Besucher anzieht.“ Die Menschen kämen, um Architektur, Sammlungen und Ausstellungen zu erleben. Aber auch, um Gärten, Restaurant, Café und Geschäfte zu genießen. Während die Ausdehnung des Campus anfangs der Natur Fläche abverlangte, verändert sich das Areal seit einigen Jahren hin zu einer grünen klimaangepassten Landschaft mit Gärten, Wald und Wasser. In Planung sei zudem gerade ein System, das Regenwasser sammelt und dies zur Kühlung nutzt.




„Diese Architektur entstand aus einem Traum, in dem Doshi zwei ineinander verschlungene Kobras sah.“ Khushnu Panthaki Hoof, Architektin
Die Idee für das Retreat hatte Rolf Fehlbaum 2019 beim Besuch des Sonnentempels von Modhera. Er wandte sich daraufhin an den indischen Architekten Balkrishna Doshi, dessen Arbeiten ihn seit Langem beeindruckten. Doshi wurde 1927 im indischen Pune geboren, studierte in Mumbai und arbeitete bei Le Corbusier und Louis Kahn. Er prägte den modernen indischen Städte- und Wohnungsbau, entwarf Universitäten, Kulturzentren und Wohnanlagen. Sein Werk verbindet Wissenschaft und Spiritualität, Funktion und Sinnsuche. 2018 erhielt er als erster Inder den Pritzker-Preis, die bedeutendste Auszeichnung der Architektur. Das Doshi Retreat auf dem Vitra Campus ist sein erstes realisiertes Projekt außerhalb Indiens – und zugleich sein letztes. Er starb 2023, bevor es fertig war. Mitentworfen und schließlich realisiert haben es seine Enkelin Khushnu Panthaki Hoof und deren Ehemann Sönke Hoof, die beide zur Eröffnung angereist sind.
„Obwohl der Campus nach wie vor ein Industriestandort ist, hat er sich zu einem öffentlichen Park entwickelt, der jährlich 400.000 Besucherinnen und Besucher anzieht.“ Rolf Fehlbaum, Chairman Emeritus Vitra
„Diese Architektur entstand aus einem Traum, in dem Doshi zwei ineinander verschlungene Kobras sah“, erzählt Khushnu Panthaki Hoof. Aus dieser Vision habe er Zeichnungen erstellt, die als Grundlage für die architektonische Umsetzung dienten. Inspiriert von indischer Spiritualität ist das Doshi Retreat eine Reise durch Räume und Klänge zu einem Ort der Kontemplation. Sönke Hoof beschreibt die technische Konstruktion: 150 Tonnen geschmiedeter Stahl des luxemburgischen Unternehmens ArcelorMittal wurden verbaut. Das Material hat eine geringe CO2-Bilanz, weil es aus recyceltem Schrott und mit erneuerbarer Energie gefertigt wurde.
Das Doshi Retreat ist ein Mix aus formschöner Skulptur, Natur, Tempel und Klanginstallation. Sein Zweck sind Rückzug, Ruhe und Besinnung. In einer Welt der ständigen Beschleunigung und medialen Überreizung ist es wohl die konsequenteste Form von Architektur, die man heute bauen kann.
