Zuhause bleiben: Das wünschen sich die meisten Pflegebedürftigen. Deshalb steigt das Angebot privater Pflegedienste, floriert die Nachfrage nach 24-Stunden-Kräften und entstehen neue Pflegekonzepte. Drei Einblicke aus der Region in eine wachsende Branche.
Text: Kathrin Ermert
Morgens allein aus dem Bett kommen, sich einen Kaffee kochen, die Schuhe anziehen oder einkaufen gehen: Für gesunde Menschen sind solche Tätigkeiten selbstverständlich. Für rund fünf Millionen Pflegebedürftige in Deutschland nicht: Menschen mit Behinderungen oder Krankheiten und immer mehr Senioren. Aufgrund der Alterung der Bevölkerung steigt die Zahl derer, die Unterstützung brauchen, laut statistischem Bundesamt in den nächsten zehn Jahren auf mehr als 5,6 Millionen. Weil Pflege ein Wachstumsmarkt ist, gibt es immer mehr private Anbieter. Etwa ein Drittel der gut 30 Pflegedienste seien das in Freiburg, schätzt Anja Schwab. Wobei die Unterscheidung zwischen privaten und gemeinnützigen Angeboten irrelevant sei. „Jeder muss wirtschaftlich arbeiten“, betont die Leiterin des Freiburger Seniorenbüros und Pflegestützpunkts.

„Bedarf gibt es genug.“
Anja Schwab (35) arbeitet seit 2013 beim Seniorenbüro und leitet es seit 2019. Sie mag die Arbeit wegen der Vielseitigkeit. Schwab hat an der Dualen Hochschule Villingen- Schwenningen Sozialwirtschaft und an der EH Freiburg Sozialmanagement studiert.
Quereinsteiger in der Pflege
In Freiburg gibt es beispielsweise seit Anfang des Jahres einen Standort des Düsseldorfer Franchiseunternehmens Homecare – die Alltagshelfer. Michael Gleichauf und Manuel Mössner haben ihn gegründet. Die Freunde, die sich seit dem gemeinsamen BWL-Studium kennen, sind Quereinsteiger – Mössner arbeitete zuvor bei einem Logistikunternehmen, Gleichauf im Automobilhandel. Beide haben aber schon lange mit dem Thema Pflege zu tun. Gleichauf betreut seit vielen Jahren ehrenamtlich Menschen mit Behinderung, Wössners Familie hat daheim die demente Oma gepflegt. „Das Homecare-Konzept wäre für uns goldwert gewesen“, sagt er.
Homecare bietet keine medizinische Grundversorgung an und braucht deshalb nicht zwingend Fachpersonal. Gleichauf und Mössner können auch Studierende oder Quereinsteiger, wie sie selbst es sind, akquirieren. Etwa die Hälfte ihrer Mitarbeitenden – im April waren es 17 – kommt aus anderen Branchen. Das ist ein großer Vorteil bei der schwierigen Personalsuche. Denn der demografische Wandel trifft die Pflege doppelt. Nicht nur steigt in den kommenden Jahren die Zahl der alten pflegebedürftigen Menschen. Noch dazu gehen viele Pflegekräfte in den Ruhestand: Mehr als ein Viertel der Beschäftigten in der Altenpflege sind älter als 55 Jahre.
Dem Fachkräftemangel in der Branche begegnet Homecare auch dadurch, dass sie ihre Dienstleistungen nicht in Modulen, wie klassische Pflegedienste, sondern stundenweise anbieten. So können sie als eine Art Subunternehmer für andere agieren und werden gut in der Branche aufgenommen. „Wir wollen keine Konkurrenz, sondern Unterstützung sein“, sagt Michael Gleichauf. „Schließlich haben alle dasselbe Ziel: Menschen gut zu versorgen.“ Anja Schwab gefällt die Idee. Sie will bald alle Freiburger Pflegedienste zu einem Workshop einladen, um über solche Synergien zu informieren. „Bedarf gibt es genug“, sagt die Expertin.

„Wir wollen keine Konkurrenz, sondern Unterstützung sein.“
Michael Gleichauf (37) hat zusammen mit seinem Kompagnon Manuel Mössner an der DHBW Lörrach studiert. Vor der Gründung des Freiburger Homecare-Franchise arbeitete er als Marketingleiter der Autohausgruppe Schmolck.
Pflegekräfte aus Osteuropa
Wesentlich zurückhaltender ist Schwab gegenüber der 24-Stunden-Pflege: „Da gibt es sehr viele Grauzonen und bei Vermittlungsagenturen, anders als bei Pflegediensten, keinerlei Qualitätskontrollen. Manche machen es aus sozialer Motivation, bei anderen steht das finanzielle Interesse aber vor den Bedürfnissen der Betreuungskräfte und Pflegebedürftigen.“ Diese Skepsis spürt Anna-Maria Schlegel. Sie darf ihre Flyer nicht im Freiburger Seniorenbüro auslegen. Dabei zählt sie ihre Personalvermittlung AMS zu den seriösen Anbietern, und andere städtischen Stellen wie der Bad Krozinger Pflegestützpunkt scheinen ihr zu vertrauen. Schlegel, die aus Polen stammt und vor mehr als dreißig Jahren als Spätaussiedlerin in den Schwarzwald kam, arbeitet mit polnischen Partneragenturen zusammen, die als Arbeitgeber der Pflegekräfte agieren. Die sprachlichen Schwierigkeiten, die viele ihrer vermittelten Leute anfangs haben, kennt sie aus eigener Erfahrung, auch sie musste erst Deutsch lernen.

„Die Bereitschaft ist die Grauzone und wird oft falsch verstanden“
Anna-Maria Schlegel (56) kam vor mehr als dreißig Jahren als Spätaussiedlerin aus Polen nach Deutschland und gründete im Jahr 2000 die Personalvermittlung AMS, anfangs für Au-Pairs, jetzt auch für Pflegekräfte.
Die Agentur, die Schlegel vor 25 Jahren in Freiburg gründete, holte anfangs Au-pairs aus Polen nach Südbaden und schickte umgekehrt junge Menschen von hier nach England, Frankreich oder Spanien. Seit dem EU-Beitritt Polens 2004 wollen aber immer weniger polnische Au-pairs nach Deutschland. Heute kommen die meisten jungen Frauen und die wenigen jungen Männer, die Schlegel an hiesige Familien vermittelt, aus Georgien, der Mongolei, Madagaskar, Indien und selten aus der französischen Schweiz oder Italien. Ähnlich bei der Pflege, die sie vor etwa zehn Jahren als zweites Standbein hinzunahm und auf die sie verstärkt setzt, da der Brexit Au-pair-Aufenthalte in Großbritannien verkomplizierte. Auch da stammt das Personal nur noch selten aus Polen, sondern meist aus anderen EU- und osteuropäischen Ländern wie Rumänien, Bulgarien oder Ungarn.
Anna-Maria Schlegel weiß um die Probleme der 24-Stunden-Pflege und betont, dass sie nur mit seriösen Agenturen zusammenarbeite. Außerdem kenne sie jede Familie hier persönlich und besuche sie mindestens drei Mal pro Jahr, wenn es Probleme gibt, auch öfter. Die Arbeits- und Freizeit sei klar geregelt: maximal eine 40 Stunden-Woche, mindestens ein freier Tag wöchentlich und höchstens drei Monate am Stück. Allerdings ist das Personal meist abrufbar. „Die Bereitschaft ist die Grauzone und wird oft falsch verstanden“, sagt Schlegel. Eine Familie brauche zwei bis drei Pflegekräfte. Pflicht sei zudem die Unterbringung in einem separaten, abschließbaren Zimmer. Und egal ob Au-pair oder Pflegekraft ist das Wichtigste laut Schlegel heute: eine gute Internetverbindung.
Alltag als Therapie
Wenn eine ambulante Pflege nicht ausreicht und eine 24-Stunden-Versorgung nicht in Frage kommt: Bleibt dann nur das Heim? Kaspar Pfister mag die Unterscheidung zwischen stationär und ambulant nicht, weil er bei beiden Pflegemodellen Nachteile sieht. Zuhause fehle oft die Barrierefreiheit, Angehörige seien überfordert und manche Menschen vereinsamten. In Pflegeeinrichtungen aber behandle man Pflegebedürftige oft wie Kranke, wenn auch in guter Absicht, lasse sie im Bett und verschlechtere so ihren Gesundheitszustand. „Ich würde mich weder in der einen noch der anderen Form wohlfühlen“, sagt der 68-Jährige, der 2004 sein Pflegeunternehmen Benevit gegründet hat. Dessen Philosophie lautet: Alter braucht Leben.
Benevit betreibt heute fast fünfzig Einrichtungen in fünf Bundesländern mit rund 1750 stationären und etwa 700 ambulanten Plätzen sowie knapp 2000 Mitarbeitenden. Dazu zählen hier in der Region das Heim Rebenblüte in Kippenheim, das Haus Breisgau in Reute bei Emmendingen und das Haus Rheinaue in Wyhl. Der Grundgedanke des Benevit-Konzepts ist die Hausgemeinschaft. Je etwa 14 Pflegebedürftige leben in Wohngemeinschafen samt eigener Küche und Wohnzimmer, kümmern sich, unterstützt von Betreuungskräften, gemeinsam ums Essen, um Wäsche, Haus- und Gartenarbeiten, gestalten Haushalt und Alltag.

„Man behandelt Pflegebedürftige wie Kranke, wenn auch in guter Absicht, lässt sie im Bett und verschlechtert so ihren Gesundheitszustand.“
Kaspar Pfister (68) ist Diplomverwaltungswirt und arbeitete in der Kommunalverwaltung bevor er Sozialunternehmen im In- und Ausland leitete. 2004 gründete er die Benevit- Gruppe, deren geschäftsführender Gesellschafter er nach wie vor ist. 2023 erschien sein Buch „Die Pflegekatastrophe“.
Pfisters Überzeugung: Älteren und pflegebedürftigen Menschen Aufgaben abzunehmen, mag gut gemeint sein, es führt aber dazu, dass ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten abnehmen, häufig auch die Lebenslust. Beteiligt man sie dagegen aktiv an täglichen Arbeiten, lassen sich erstaunliche Entwicklungen beobachten. Pfister berichtet beispielsweise von einem Herrn, der im Rollstuhl ins Haus Rheinaue zog, wo er sich um den Kaminofen kümmert, Holz nachlegt, Asche leert, die Schieber einstellt, anzündet, und mittlerweile wieder laufen kann – sogar ohne Rollator. Etwa ein Drittel der von Benevit Betreuten verbesserten ihren Allgemeinzustand, manche können im Pflegegrad zurückgestuft werden, einige ziehen wieder in ihr altes Zuhause.
In Wyhl entwickelt das Pflegeunternehmen das Hausgemeinschaftskonzept weiter zum sogenannten Mitmach-Heim. Ein Teil der Leistungen wird dort ambulant erbracht, auch von Angehörigen. „Stambulant“ nennt Pfister dieses Konzept, das vor neun Jahren als Modellprojekt des Landes startete und dem Studien wiederholt seine Vorteile bestätigten: Den Menschen gehe es besser, die Arbeitskräfte würden effektiver eingesetzt, und es sei finanziell deutlich günstiger als die derzeitige Pflege. Allein der Eigenanteil kostet bis zu 1000 weniger pro Monat. Und wenn alle Pflegeheime in Deutschland so arbeiteten, würde das die Ausgaben um rund vier Milliarden Euro senken. Doch ehe das Pflegegesetz es nicht explizit gestattet, darf keine weitere Einrichtung dieses Konzept umsetzen. Dabei hat es viele Unterstützer, beispielsweise den baden-württembergischen Sozialminister Manfred Lucha. Bundesweite Medien haben das Haus Rheinaue in Wyhl besucht und darüber berichtet. Die Ampelregierung hatte das Konzept auf der Agenda, und auch in den Koalitionsvertrag von CDU und SPD hat es Stambulant geschafft. Kaspar Pfister zweifelt deshalb nicht daran, dass sich seine Idee durchsetzt. Die Frage ist nur wann.