In Rheinfelden sitzt ein kleines Familienunternehmen, das Pfeilspitzen für den Profibogensport entwickelt, produziert und weltweit vertreibt. Es ist eine Nische in einem ohnehin ausgeprägten Nischenmarkt. Ein Besuch bei Vater, Onkel und Söhnen.
Text: Julia Donáth-Kneer • Fotos: Alex Dietrich
Berthold Kümmerle ist eine Erscheinung: zwei Meter groß und schlank wie ein Profiathlet. Der 67-Jährige ist Vater von vier Kindern und führt das Familienunternehmen Gebrüder Kümmerle, das sein Vater 1965 gründete, in zweiter Generation. Er und sein anderthalb Jahre jüngerer Bruder Stefan teilen sich die Geschäftsführung. Feinmechanikermeister Stefan leitet die Werkstatt, Werkzeugmachermeister Berthold das operative Geschäft, und mit dem ältesten Sohn Julian Kümmerle ist inzwischen die dritte Generation in die Geschäftsleitung eingestiegen. 25 Mitarbeitende sind hier beschäftigt.
Wurden früher hauptsächlich Präzisionsdrehteile für die Uhrenindustrie hergestellt, liegen die Schwerpunkte heute auf industriellen Anwendungen und Medizintechnik. Vor etwas mehr als 20 Jahren kam ein völlig neues Geschäftsfeld hinzu – erdacht, geprägt und durchgesetzt von Berthold Kümmerles unbeirrbarem Erfindergeist. Beim Gespräch im Büro im zweiten Stock des Gebäudes, in dem auch die Produktion sitzt, erzählen Berthold Kümmerle und sein zweitjüngster Sohn David, wie aus dem klassischen Handwerksbetrieb ein Nischenchampion wurde, der Kontakte in die ganze Welt unterhält.




Seit dem Jahr 2001 produziert und entwickelt die Firma unter dem Markennamen Top-Hat Pfeilspitzen für den Profibogensport. Und das kam so: Berthold Kümmerle nahm damals gemeinsam mit einem Bekannten an einem Bogenschnitzkurs teil. Das Fertigen des Holzbogens machte dem Werkzeugmacher Spaß, die Herstellung des passenden Pfeils weniger. Zu jener Zeit war es üblich, den Holzschaft des Pfeiles anzuspitzen, ähnlich wie bei einem überdimensional großen Bleistift, und auf den entstehenden Konus die Pfeilspitze zu kleben. „Das kann doch gar nicht exakt funktionieren“, dachte Berthold Kümmerle. Er, der seit vielen Jahren beruflich mit hochkomplexen Komponenten in kleinsten Durchmessern zu tun hatte, setzte sich daraufhin in seine Werkstatt und begann zu tüfteln. Für die Dentaltechnik fertigte sein Unternehmen Zahnimplantate mit Gewinde, die sich direkt in den Kieferknochen schrauben lassen. So etwas ähnliches schwebte ihm für die Pfeile vor.
Schließlich erfand er ein selbstschneidendes Gewinde, das in einer zylindrischen Ummantelung eingefasst ist. Man schraubt es auf den Holzschaft des Pfeils und das Teil zentriert sich selbst, sobald es richtig verankert ist. „Das bedeutete: kein Kleben, kein Anspitzen, keine Ungenauigkeiten mehr“, sagt David Kümmerle stolz. Der Vater ließ die sich selbstzentrierende Spitze patentieren, die Marke Top-Hat entstand. Ende 2019 gründete die Gebrüder Kümmerle GmbH dafür eine eigene Vertriebsgesellschaft unter dem Namen Arc&Us. David Kümmerle, der bereits seit 2010 im Unternehmen war, übernahm die Geschäftsführung. 2014 eröffnete die Familie zudem ein Bogengeschäft im Rheinfeldener Vorort Minseln, dem Gründungsstandort des Unternehmens. Heute wird es von Raphael Kümmerle, dem jüngsten Sohn, geleitet, der sich mittlerweile auf Firmen- und Teamevents spezialisiert hat. Der Einzelhandel mit den Bogen ist nur noch Beigeschäft.




Wer krumm schießt, trifft nicht
Inzwischen erzielt das Unternehmen rund 30 Prozent des Gesamtumsatzes mit den Pfeilspitzen. Arc&Us gehört damit weltweit zu den größten Drittanbietern für den Bogensportbedarf, verlässliche Zahlen zur Marktführerschaft gibt es jedoch nicht. Dafür ist die Nische zu speziell und zu klein, aber man verkauft in die ganze Welt. Hauptsächlich nach Deutschland, Mitteleuropa und Amerika, ebenso nach Asien und Australien. Trumps Zollpolitik tut weh, denn der Stahlzoll betrifft auch die Pfeilspitzen. Welche Edelstahle ausgenommen sind und welche Tarifnummern für welche Importe gelten, damit haben sich die Mitarbeitenden auseinandergesetzt und liefern ihren US-amerikanischen Kunden die entsprechenden Informationen gleich mit. „Wir nutzen die Zollproblematik indirekt zur Kundenansprache und -kommunikation“, erklärt David Kümmerle. Momentan profitiere man von Vorzugseffekten und habe daher die Produktion hochfahren müssen.
Die Kunden kommen aus dem Profibogensport. Die größten Mitbewerber der Rheinfeldener sind die Pfeilhersteller selbst, denn natürlich verkaufen auch sie ihre Pfeile mit Spitzen. „Das ist wie beim Turnschuh: Jeder kommt mit Schnürsenkeln, aber wenn du besondere willst, kaufst du sie dir halt dazu“, sagt David Kümmerle. Der Vorteil für die Präzisionsarbeit aus dem Dreiländereck: Der Bogensport verzeiht keine Fehler, jedes technische Detail muss perfekt sein. Denn die physikalischen Gesetze hinter dem Bogenschießen sind komplexer als man denkt. „Die Kraft, die auf den Pfeil wirkt, ist extrem, er biegt sich quasi um den Bogen rum. Mit dem Gewicht und der Ausrichtung der Spitze kann man den großen Kraftimpuls, den der Pfeil aushalten muss, ausgleichen, sodass er auf der richtigen Frequenz schwingt“, erklärt David Kümmerle. Der 36-Jährige ist sogar noch größer als sein Vater, und muss sich bücken, wenn er durch Türen tritt.
David Kümmerle selbst hat auch mal einen Bogen in der Hand, professionell betreibt er den Sport aber nicht. Im Gegensatz zu seinem Onkel Stefan. Der Feinmechaniker, der unten in der Werkstatt immer noch Tag für Tag an den Maschinen steht, nimmt sogar an Wettbewerben teil. Mit Erfolg. Vor sechs Jahren wurde der 66-Jährige in seiner Disziplin Vizeweltmeister.
„Beim Bogensport entscheiden Winzigkeiten über Sieg und Niederlage“, sagt Berthold Kümmerle. „Wir müssen mit unseren Materialien dafür sorgen, dass der Pfeil auch auf 70 Meter Entfernung exakt so fliegt, wie er soll.“ Am Ende können kleine Abweichungen dafür sorgen, dass der Pfeil sein Ziel um wenige Zentimeter verfehlt, obwohl der Schütze genau gleich schießt. Die Kümmerles sind Experten für diese Feinheiten: Wie schwer darf die Spitze für welchen Pfeil sein? Wie muss man sie ausrichten? Wie stellt man den Bogen korrekt auf den jeweiligen Schützen ein? „Wir beraten die Sportlerinnen und Sportler und verweisen sie dann an die richtigen Händler“, erklärt David Kümmerle. Denn während die Mutterfirma Gebrüder Kümmerle als Lohnfertiger aufgestellt ist, arbeitet Arc&Us mit Lagerbeständen und einem großen Händlernetz. 90 Prozent gehen an den Einzelhandel, an Bogensport- und andere spezialisierte Geschäfte, nur der kleinste Teil direkt an den Endkunden – schließlich wolle man sich die Händler nicht vergraulen.
Fehlende Förderung im Nischensport
Ein Problem in dieser Nische im Nischensport ist die fehlende Finanzierung. Auf Dauer könne die Firma kein Sponsoring betreiben. Aktuell wird sogar einer der Bestseller aus der Produktion genommen: Es sind kleinste Spitzen aus Wolfram. Ein extrem teures und schwer zu verarbeitendes Metall, das über die nötige Dichte verfügt, damit es auch im kleinsten Durchmesser das punktuell gleiche Gewicht bringt. Perfekt für die Pfeile, aber wirtschaftlich nicht finanzierbar, weil es sich fast keiner leisten kann.
Im Bogensport gibt es nicht mal für Olympioniken große Förderungen, weswegen sich nicht alle Athletinnen und Athleten eine teure Ausrüstung anschaffen können. „Viele wollen gesponsert werden“, berichtet David Kümmerle. „Das ist für uns prestigeträchtig interessant, aber unternehmerisch nicht möglich.“ Die Erfolge indes sprechen für sich. Bei den Olympischen Spielen 2016 zum Beispiel holte Lisa Unruh die erste deutsche Einzelmedaille im Bogenschießen überhaupt – mit einer Top-Hat-Pfeilspitze.


Inzwischen ist Seniorchef Berthold Kümmerle im Rentenalter, ans Aufhören denkt er nicht. Er nimmt sich nun aber auch mal Zeit für sich und seine Hobbys. Im Flur vor seinem Büro hängt eine Deutschlandkarte mit abgesteckten Routen: Rheinfelden bis Hamburg und St. Peter Ording bis Rheinfelden. Es sind Touren, die der 67-Jährige mit seinem Gravelbike gefahren ist. Wohlgemerkt ohne Motor. Und auch zuhause gibt es genügend Trubel. Insgesamt hat Berthold Kümmerle neun Enkelkinder. In Minseln, dort wo seine Mutter Paula damals den Feinmechaniker Erwin Kümmerle heiratete, der aus dem Schafstall der Familie die erste Werkstatt machte und damit den Grundstein für das Unternehmen legte, wohnen alle vier Kinder von Berthold Kümmerle mit ihren jeweiligen Familien. Ein bisschen wie Bullerbü, aber mit Feindrehteilen.