Im Breisgau-Hochschwarzwald haben mehr Autorinnen und Autoren gelebt, gewirkt oder Station gemacht, als man gemeinhin vermuten würde – von Paul Celan über Marie Luise Kaschnitz und Peter Huchel bis Ingeborg Hecht. Der Band „Herzkammern“ folgt ihren Spuren. Eine schöne und zugleich informative Erkundung von Literatur.
Text: Christine Weis
1943 kam Benno Reifenberg (1892–1970), Kulturredakteur der „Frankfurter Zeitung“ nach Neustadt – nicht freiwillig, sondern vertrieben von den Nazis. Er gilt als einer der bedeutendsten deutschen Journalisten des 20. Jahrhunderts. Von 1959 bis 1965 war Reifenberg Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. In Neustadt allerdings trat der damals 43-Jährige eine Praktikantenstelle im Hirnforschungsinstitut von Oskar Vogt an. Statt Kritiken zu schreiben, sezierte der Kunsthistoriker und Feuilletonist Fruchtfliegen und befasste sich mit Genetik. Mit dem Kriegsende im Mai 1945 startete Reifenberg ein neues Zeitungsprojekt „Die Gegenwart“. Seine ehemaligen Kollegen reisten an, die Redaktionskonferenzen fanden im Saiger Gasthaus Ochsen statt. Die Publikation bestand bis 1959 und avancierte zu einer der meistgelesenen überregionalen Zeitungen in Deutschland.
Für Reifenberg war der Schwarzwald Exil. Die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz (1901–1974) fand hingegen in Bollschweil ihre „Herzkammer der Heimat“. Geboren in Karlsruhe, aufgewachsen in Berlin und Potsdam, kam sie mit 16 ins Hexental auf das Landgut ihrer adligen Familie. Mit 22 zog sie aus, lebte in Weimar, Rom und Frankfurt, kehrte aber immer wieder zurück. In Bollschweil heiratete sie den österreichischen Archäologen Guido Kaschnitz von Weinberg, und hier wurde sie 1974 beerdigt.
Reifenberg und Kaschnitz gehören zu den über 50 Porträtierten in dem Buch „Herzkammern. Eine literarische Reise durch Breisgau und Hochschwarzwald“. Es ist in Zusammenarbeit des Deutschen Literaturarchivs Marbach mit der dort angesiedelten Arbeitsstelle für literarische Museen in Baden-Württemberg und dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald entstanden. Das Panorama reicht von Todtnauberg, wo der Dichter Paul Celan mit dem Philosophen Martin Heidegger zusammentrifft, bis nach Burkheim am Kaiserstuhl, wo Jörg Wickram 1555 den ersten dreisprachigen Roman veröffentlichte. Man erfährt, dass Vladimir Nabokov im August 1925 auf den Feldberg wanderte und ihm auf dem Weg zum Gipfel ein Gedicht in den Sinn kam. Und staunt darüber, dass der Karl-May-Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld nicht nur passionierter Jäger, sondern auch begeisterterer Radfahrer war.
Mehr als einmal steht Badenweiler im Zentrum. Kein Wunder, denn in dem Markgräfler Kurort machten seit jeher viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen Station: Hermann Hesse, Ingeborg Hecht, Annette Kolb, Renè Schickele, Anton Tschechow, Gabriele Wohmann. Auch den Literaturwissenschaftler, Autor und Philosophen Rüdiger Safranski zog es 2009 dorthin. Seit 2012 veranstaltet er jährlich die Badenweiler Literaturtage mit namhaften Gästen.
Alle 70 Beiträge des Bandes sind bereichernd und lesenswert. Sie bergen Schätze, heben Vergessenes ans Licht, ermöglichen Wiederentdeckungen und Begegnungen. Darunter einige literarische Glanzstücke: Iris Wolff über Kaschnitz, Arnold Stadler über Erhart Kästner – besonders die Texte von Fatma Sagir und Lutz Seiler.

Die Freiburger Kulturwissenschaftlerin Fatma Sagir (diesjährige Reinhold-Schneider-Preisträgerin für Literatur) nähert sich dem Orientalisten Gustav Weil (1808–1889) in dessen Geburtsort Sulzburg. Weil war der erste jüdische Professor mit einem Lehrstuhl an einer deutschen Universität. Sagir fragt sich, wie es für ihn gewesen sein muss, als Gelehrter auf seinen Studienreisen im Osmanischen Reich höchste Anerkennung zu erfahren, „aber zurück in seiner Heimat auf einen Platz in den hinteren Reihen verwiesen zu werden?“. Er litt mehr als zwei Jahrzehnte lang unter den Demütigungen als Jude an der Universität Heidelberg. Einiges in dessen Biografie ist Sagir, die 1975 im Alter von einem Jahr als sogenanntes Gastarbeiterkind aus der Türkei nach Deutschland kam, selbst vertraut: „Talent und Leistung sind kein Garant für die versprochene Zugehörigkeit. Auch in jenen Kreisen nicht, die die akademischen Werte des Humanismus hochhalten.“
Eindrücklich schildert Sagir die Verfolgung der Juden in Sulzburg. Im Großherzogtum Baden stellte die jüdische Gemeinde ein Drittel der Einwohner des Ortes, nach der NS-Gewaltherrschaft war sie ausgelöscht. Die Autorin schreibt: „Hier standen die Nazis. Einst aufmarschiert. Alle Häuser der Juden von Sulzburg geplündert, gebrandschatzt, enteignet, ihre Bewohner vertrieben, deportiert, ermordet. Hier das kleine Lädchen vom ‚Wolljüdele‘, wie die Dorfbewohner die Familie Bloch und ihr Geschäft nannten, und dort das blaue Haus mit dem Erkerbau, in dem der als ‚Fischud‘ betitelte Fischhändler, ebenfalls aus der Familie Bloch, mit seiner Frau lebte.“
Lutz Seiler erinnert sich in seinem Essay an den Besuch im Hause des Ehepaars Huchel in Staufen im Jahr 1997. Peter Huchel (1903–1981), einer der namhaften deutschen Lyriker, wurde in Groß-Lichterfelde bei Berlin geboren, studierte in Freiburg Literatur und Philosophie und veröffentlichte Mitte der Zwanzigerjahre seine ersten Gedichte. Nach dem Krieg gründete er die Zeitschrift „Sinn und Form“. 1971 mussten er und seine Frau Monica aus der DDR ausreisen und ihr Haus im brandenburgischen Wilhelmshorst zurücklassen. Heute ist es eine Gedenkstätte, deren literarisches Programm Lutz Seiler verantwortet. Deshalb kam er auch nach Staufen, um für eine Ausstellung Bücher aus Huchels Bibliothek auszuwählen. Es waren Bände des „Forst- und Jagdarchivs von und für Preußen“, Blaise Pascal „Über die Religion“ oder Jacob Böhmes „Vom Aufgang der Morgenröte“ (Huchels Lieblingsbuch). Doch in Seilers Text geht es nicht vordergründig um Peter, sondern um Monica Huchel (1914–2002).
In der atmosphärischen Momentaufnahme zwischen Kaffee, Katzen, Kaminzimmer und Bücherpacken zeichnet Seiler ein feines Portrait einer Frau, die sich um den Nachlass ihres Mannes kümmerte. So, wie sie sich immer um alles in seinem Leben gekümmert hat, was anstand: Umbauten, Heizmaterial, Ausreisepapiere, Familienunterhalt. Und sie pflegte ihren schwerkranken Mann, nachdem er 1977 einen Hirninfarkt erlitten hatte. Sie war Journalistin und Russisch-Übersetzerin,1953 heiratete sie Huchel, den sie im Gespräch mit Seiler nur beim Nachnamen nennt. Ein Zitat charakterisiert die lange Beziehung in wenigen Worten: „Ich wollte kein Anhängsel sein, und in der Öffentlichkeit gibt es keinen Raum neben einem solchen Mann. Trotzdem habe ich mich Huchel in einem Maße untergeordnet, dass mich nur mein fast schon übersteigertes Selbstbewusstsein davor geschützt hat, mich dabei zu verlieren. Ich weiß keine Antwort darauf, warum ich es tat. Ich weiß nur, dass ich es für keinen anderen Mann getan hätte.“
"Herzkammern. Eine literarische Reise durch Breisgau und Hochschwarzwald", herausgegeben von Thomas Schmidt und Felix Schiller, Verlag Herder, 292 Seiten, 25 Euro. Die digitale Literaturkarte zu allen Autorinnen und Autoren, ihren Lebensdaten und Orten ist abrufbar unter www.literaturland-bw.de/literaturkarte