In Oberwolfach im Kinzigtal gibt es eine der letzten Seilereien. Die Familie Haas betreibt sie in vierter Generation und hält die Tradition damit aufrecht. Ein Werkstattbesuch.
Text: Christine Weis • Fotos: Alex Dietrich
Der markante Holzschuppen an der Wolfbergstraße zwischen Fluss und Hang am Ortsrand von Oberwolfach verrät das Handwerk. Der lange, schmale Bau ist typisch für eine Seilerei. Im Schwarzwald nennt man den dazugehörigen Beruf Seiler. In Norddeutschland heißt er Reepschläger und seine Arbeitsstätte Reeperbahn. Denn tatsächlich verdankt der bekannte Hamburger Rotlichtkiez diesem Handwerk seinen Namen. Reeperbahnen und Seilereien sind jedoch fast überall verschwunden und meist nur noch museal erhalten. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Seilerei Haas.
Inhaber Patrick Haas und seine Familie halten an dem alten Handwerk fest. Der 34-Jährige ist hauptberuflich Fliesenleger und arbeitet bei einem ortsansässigen Bauunternehmen. Das Geschäft mit Seilen, Stricken, Schnüren, Ketten und Kordeln führt er im Nebenerwerb. Rund zwei Stunden ist er täglich nach Feierabend in der Seilerwerkstatt beschäftigt. Dabei unterstützen ihn seine Frau Bianca und seine Mutter Renate Haas. Auch seine jüngere Schwester Svenja Haas arbeitet mit: Sie kümmert sich um das Büro und kontrolliert Stahlketten auf Schäden und Funktionsfähigkeit im Auftrag von Unternehmen, zum Beispiel einem Baumaschinenhersteller. Dafür hat sie eine spezielle Ausbildung absolviert, die Dienstleistung trägt den sperrigen Namen Kettenanschlagmittelprüfung nach BGR 500.




Team Familie
Als der Vater Martin Haas vor einigen Jahren starb, kam der Generationenwechsel schneller als gedacht. „Wir sind in der Seilerei aufgewachsen. Es war irgendwie immer klar, dass wir das Handwerk weiterführen“, sagt Patrick Haas.
Das genaue Gründungsjahr des Betriebs kennt er nicht. Es war wohl irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts. Früher gehörte eine Seilerei zu fast jedem Ort, sie war so selbstverständlich wie eine Schmiede oder eine Sattlerei. Seile aus Hanf, Flachs oder Sisal waren wichtig für die Land- und Forstwirtschaft. Man benutzte sie zum Binden von Stroh und Erntegaben, zum Anbinden der Tiere, für Lastenzüge oder um Baumstämme zu ziehen. Ob auf dem Feld, im Stall oder im Wald: Ohne Seile wäre die tägliche Arbeit kaum vorstellbar gewesen.

Das Wissen und die notwendigen Handgriffe wurden innerhalb der Familie Haas über Jahre hinweg weitergegeben, erzählt Patrick Haas, während sein drei Monate alter Sohn im Kinderwagen schläft. Seine Frau Bianca kommt zum Gespräch dazu. „Bevor ich Patrick kennengelernt habe, wusste ich nicht, dass man überhaupt noch Seile in Handarbeit herstellt“, sagt sie. Jetzt kann die gelernte Bürokauffrau es selbst. Familienleben und Handwerk lassen sich hier kaum trennen. Das zeigt sich auch im Gebäudeensemble. Die junge Familie ist vor Kurzem in den Neubau eingezogen, der zwischen dem historischen Teil und der neueren Werkstatt steht, in der sie seit rund 20 Jahren produzieren. Die Hochbeete neben dem Haus sind frisch angelegt, die Pflastersteine in der Einfahrt noch blitzblank, hinterm Haus grasen Schafe, eine Katze schleicht um die Hausecke an diesem sonnigen Augusttag.
Wir sind in der Seilerei aufgewachsen. Es war irgendwie immer klar, dass wir das Handwerk weiterführen.“ Patrick Haas
Patrick Haas hat gerade Urlaub, doch die Arbeit in der Seilerei muss trotzdem erledigt werden. Heute hilft ihm dabei seine Mutter Renate Haas. Die 62-Jährige stammt aus Otten-höfen und hat in die Oberwolfacher Seilerfamilie eingeheiratet. Sie erinnert sich noch gut daran, wie ihr Schwiegervater in dem alten Seilerschopf arbeitete. Obwohl dieser mindestens 50 Meter lang ist, war er für manche Taue zu kurz war. Dann wurde die Seilbahn einfach ins Freie verlängert. „Im Winter war es häufig feucht und kalt. Es gab keinen Ofen in der Werkstatt, durch Ziegel und Fenster zog der Wind“, berichtet Renate Haas.
Damals wurden die Seile aus Naturfasern gefertigt. Heute besteht das Material meist aus Kunststoff. „Wir produzieren hauptsächlich zweieinhalb Meter lange Bindestricke aus Polypropylen, zum Beispiel für einen Gerüstbauer aus der Region.“ Mit der speziellen Seilschlagmaschine, die nicht ohne Handarbeit läuft, schaffen sie rund 180 Stück in zwei Stunden. Lohnt sich die Arbeit finanziell? „Es ist ein kleiner Zuverdienst, reich wird man davon nicht“, antwortet Haas. Abgerechnet werde nach Stückpreis, die Arbeitsstunden können man dabei nicht eins zu eins weitergeben.




Naturfaser und Kunststoff
Renate und Patrick Haas zeigen, wie die Bindestricke verarbeitet werden. Zunächst hängen sie weiße und blaue Garne aus Polypropylen in das Kammgeschirr des sogenannten Schlittens. Dieser ist eine massive Konstruktion, ausgerüstet mit Motor, Haken, Rädern und Gewichten. Die Haken übertragen die Drehbewegung, die Räder sorgen für ein gleichmäßiges Vor- und Zurücklaufen, und die Gewichte halten die Garne unter Spannung.
Im nächsten Schritt führen sie die Kunststofffäden mehrfach hin und her. Dann schaltet Patrick den Motor ein. Während der Schlitten langsam nach vorne fährt, legen die beiden zwei Leithölzer zwischen die Stränge und führen diese vor dem Schlitten her. So entsteht die kontrollierte Verdrehung, die aus losen Fäden ein gleichmäßig gedrilltes Seil macht. Nach etwa einer Minute ist es fertig. Routiniert bindet Renate eine Schlaufe an das eine Ende des Seils und zeigt dann auf das andere. „Das geht nie auf“, sagt sie. „Im Unterschied zur industriellen Fertigung werden die Fadenenden bei unserer Technik nicht einfach mit einer Klammer fixiert, die sich lösen könnte, sondern wir flechten sie fest ineinander, das hält dauerhaft.“
„Solange Nachfrage da ist, machen wir weiter. Wenn sie irgendwann nachlässt, dann geht diese Ära vielleicht einmal zu Ende.“ Renate Haas
An einer Wand hängt die gesamte Produktpalette: Naturfaserseile aus Hanf und Sisal in unterschiedlichen Stärken und Längen sowie verzinkte Stahlketten. Im Regal stapeln sich Bindegarnrollen, Verpackungskordeln und Metzgerfäden – keine Eigenproduktion, sondern Handelsware. „Wir beliefern Handwerk, Industrie, Land- und Forstwirtschaft, aber auch Privatkunden, die vielleicht einfach nur ein Seil für eine Schaukel benötigen“, erklärt Patrick Haas. Seine Mutter fügt hinzu: „Solange Nachfrage da ist, machen wir weiter. Wenn sie irgendwann nachlässt, dann geht diese Ära vielleicht einmal zu Ende.“ Wie sie angefangen hat, davon erzählt die historische Werkstatt. Heute wird sie nur noch selten genutzt, meist als Lager. Doch wenn Forstwindenseile abgemessen werden müssen, greift die Familie auf die Länge zurück. Von riesigen Spulen werden dann Meter für Meter abgerollt. Wer durch den alten Bau geht, hört das Knarren der Dielen, sieht das Licht durch die Fensterfront fallen und spürt ein Stück Vergangenheit. Gleichzeitig macht das Rattern der Maschine aus der Werkstatt nebenan deutlich: Dieses Handwerk lebt noch.