Die Neuvermessung der Führung: Was bleibt, was kommt? Rudolf Kast im Gespräch mit Schwester Magdalena, Priorin des Benediktinerklosters St. Lioba in Günterstal in Freiburg.
Von Rudolf Kast
Sie wurden vor zwei Jahren in das Amt der Priorin gewählt. Sie bekleiden somit als Führungskraft ein Wahlamt, also Führung auf Zeit, so wie das heute in vielen Start-Up-Unternehmen auch praktiziert wird: Wie kam es zu Ihrer Wahl?
Schwester Magdalena: Bei uns gibt es keine Bewerbung für dies Amt, wohl werden durch Mundpropaganda Schwestern empfohlen. Bei der Wahl benennen die Schwestern schriftlich einen Namen. Die Schwester, die die meisten Stimmen auf sich vereint, gilt als gewählt. Benedikt sagt, es werde der bestellt, den die ganze Gemeinschaft (oder die Mehrheit) in Gottesfurcht gewählt hat. Voraussetzung sind Weisheit in der Lehre und Bewährung im Leben, es kann also auch durchaus eine jüngere Schwester gewählt werden.
Kann man die Wahl ablehnen?
Das ist möglich, ich habe mich auch sehr schwergetan, die Wahl anzunehmen. Ich hatte ja lange Jahre die Pflegeleitung inne und sah meine Hauptaufgabe und Berufung in der Leitung der Wohnbereiche für Pflege. Bei meiner Wahl war auch der Weihbischof von Freiburg zugegen und ich begab mich mit ihm und dem Rat der Schwestern nach der Wahl erst mal in die Kapelle. Ich fühlte die kommende Bürde des Amtes und zweifelte an mir. Der Zuspruch der Schwestern, des Bischofs und das Vertrauen durch die hohe Zustimmung in der Wahl ermutigten mich zur Annahme.
Was waren und sind Ihre eigenen Erwartungen an das Führungsamt?
Als Kloster unterstehen wir bischöflichem Recht und der Bischof von Freiburg hatte uns 2015 empfohlen, eine Organisationsberatung durchzuführen, unterstützt durch externe Coaches. In der Zielsetzung wollten wir die Zukunft des Klosters klären. Wie können wir mit einer immer kleiner werdenden Gemeinschaft überleben? Unsere Schwestern werden älter, wir brauchen immer mehr externes Personal. Wir benötigen einen neuen Orientierungsrahmen für Finanzen, Personal, Raumnutzung und die Pflege der großen Außenanlagen. Wir haben Themengruppen eingerichtet und alle Schwestern und auch die Mitarbeitenden in einem partizipativen Verfahren an der künftigen Ausrichtung klösterlichen Lebens beteiligt. Ein Ergebnis ist, dass wir uns weiter öffnen. Wir haben schon vor Jahren einen Klosterladen und einen Bibel- und Kräutergarten geschaffen. Dienstags und donnerstags öffnen wir den Klostergarten für ein mobiles Café. Im Jahr 2015 auf der Höhe der Flüchtlingswelle sind die Schwestern enger zusammengerückt und so haben wir Wohnraum für ca. 30 Flüchtlinge bereitgestellt.
Wie viel Freude haben Sie jetzt an Ihrer Führungsaufgabe?
Ich freue mich, dass ich gemeinsam mit den Schwestern gestalten kann. Gestaltungsfreude hatte ich schon an meiner vorherigen Führungsaufgabe, die Schwestern hatten also erlebt, dass ich führen kann und das „Handwerkszeug“ der Führung besitze. Die Wahl durch die Gemeinschaft der Schwestern führt zu einer noch stärkeren Unterstützung der Führungskraft; diese spüre ich besonders durch das Gebet der Schwestern. Alle fühlen sich für ein gutes Miteinander verantwortlich. Allerdings gilt nach der Benediktsregel, dass eine Führungskraft nach ihren Taten zu bewerten ist, nicht nach dem, was sie sagt, sondern was sie vorlebt. Unterstützung erfahre ich weiterhin durch die Subpriorin, die ich mir auswählen und bestimmen konnte sowie durch den Schwesternrat, der bei uns durch vier gewählte Schwestern, die Subpriorin und eine Schwester, die ich persönlich auswählen kann, gebildet wird. Wir treffen uns alle zwei Monate und beraten uns gemäß der Benediktsregel: „Tue alles mit Rat“.
Wer führen will, muss also fragen?
Das ist für unser Verständnis sehr wichtig. Es geht nicht um den Gehorsam im Glauben, denn im Wort Gehorsam steckt etymologisch das Wort horchen. Im ersten Wort der Benediktinerregel steht: „Höre mein Sohn/Tochter auf die Weisung des Meisters, neige das Ohr Deines Herzens“, es geht darum, gut zuzuhören und aktiv zuzuhören. Ich muss mich als Führungskraft zurücknehmen, bereit sein, Kritisches und guten Rat anzunehmen. In gleicher Weise ist Demut aktuell zu interpretieren. Demut bedeutet „Mut zum Dienen“, wenn ich nicht den Mut habe zu dienen und alles vom grünen Tisch entscheiden will, funktioniert es nicht. Führung heißt, dienen von oben nach unten. In einer Organisation – gerade auch mit den immer älter werdenden Schwestern – ist Führung durch Fürsorge geprägt, für die Schwestern genauso wie für die externen Mitarbeitenden. Wenn ich sehe, jemand ist überlastet in seiner Aufgabe, dann gehe ich ihm zur Seite. So helfe ich zum Beispiel bei der Betreuung der alten Schwestern, in der Hausarbeit beim Räumen oder auch schon mal dem Gärtner beim Jäten des Unkrauts im Garten, was mir nebenbei körperlich guttut. Benedikt sagt: „Er habe sich mit großer Sorgfalt um andere zu kümmern, wenn er anderen nichts geben kann, so gebe er ihm wenigstens ein gutes Wort“.
Der Laie kennt gemeinhin oft die Benediktinerregel „bete und arbeite“ (Ora et labora).Welchen Stellenwert hat das heute noch ?
Die Brüder, die Schwestern sollen einander dienen, niemand soll vom Dienst ausgenommen werden. Alle sollen entsprechend ihren Fähigkeiten und Kompetenzen eingesetzt werden. Dies wird regelmäßig in unseren Besprechungen thematisiert. So haben wir auch den Pflegeschlüssel in unserer Pflegestation im Kloster optimiert, dafür bleibt mehr Zeit für Pflege und Betreuung und es gibt im Ergebnis weniger Ausfallzeiten. Die Pflicht zur Arbeit sollte aber nicht einseitig interpretiert werden. Bei Benedikt beginnt der Tag mit dem Morgengebet, der geistlichen Lesung, Frühstück und dann die Arbeit. Benedikt regelt also den Tag grundsätzlich, aber jede Gemeinschaft muss und kann ihren eigenen Weg finden, die Regel ist nicht starr.
Sie wenden demgemäß moderne Führungsgrundsätze wie situative Führung oder Diversity (Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit würdigen) ganz selbstverständlich nach der Benediktregel an?
Die Schwestern und unsere externen Mitarbeitenden – alle müssen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen werden. Die Gabe der Unterscheidung des Einzelnen erkennen und als positiven Wert sehen, Sie können das gerne neudeutsch „Diversity„ nennen, wir nennen es „Discretio“ und es bedeutet: „Unterscheide und finde das rechte Maß“! Es kommt darauf an, alle Talente und Möglichkeiten im Rahmen ihrer Kreativität und Möglichkeiten zu fördern. Alle sollen so eingesetzt werden, dass sie ihre Stärken entfalten können. Dies erfordert indes viel Zeit für Gespräche, mit dem Einzelnen als auch in Teambesprechungen. Jeden Montag führen wir ein „Blitzlicht“ mit allen Führungskräften durch. Wenn ich meine Zeit für Führungsaufgaben rechne, komme ich auf nahezu sechzig Prozent und 20 Prozent Seelsorge.
Das ist vorbildlich und geht weit über das Maß hinaus, was Führungskräfte in der Wirtschaft aufwenden. Welchen Nutzen ziehen Sie hieraus?
Ich erkenne zum Beispiel gut, wenn Mitarbeitende überfordert sind, und gemäß meiner Fürsorgepflicht ist dies eine meiner wichtigsten Aufgaben. Ich habe dies vor Jahren an mir selbst gespürt, ich war jahrelang Pflegedienstleitung und wurde vor fünf Jahren Subpriorin. Meine Nachfolgerin in der Pflege habe ich eingearbeitet, konnte aber schlecht loslassen, weil wir zu dieser Zeit sehr viele pflegebedürftige Schwestern in den Wohnbereichen hatten. Ich hatte dann selbst eine schwere Erschöpfungsphase durchgemacht und bin im Rahmen meiner Erkrankung eher zufällig mit der heilsamen Wirkung des regelmäßigen Sports vertraut geworden. Seit meiner Wahl zur Priorin trainieren wir jeden Montagabend mit einer Sporttherapeutin mit circa 8-12 Schwestern. Fürsorge bedeutet für uns also auch das Angebot gesundheitsfördernder Leistungen. So leben wir auch Vernetzung und geben soziale Orientierung, nicht nur spirituell, sondern auch in anderen Formen der Begleitung.
Nach zwei Jahren im Amt der Priorin, was ist ein erstes „Fazit“?
Die Führung erlebe ich mit Freude und ich kann gestalten. Natürlich sind die Abstimmungsprozesse mühsam, die partizipatorische Einbeziehung der Teams gibt uns mehr Kraft und Stärke für die Umsetzung unserer Vorhaben. Ich darf Menschen begleiten und bin froh, dass auch ich begleitet werde. Als Führungskraft muss ich auch jemand haben, der mich berät, der mir mit offenem Ohr und Herz zuhört. Jeder Mensch braucht ein „DU“ und dadurch fühle ich mich in meiner Führungsrolle gestärkt und angenommen.
Über den Autor:
Der Jurist Rudolf Kast war bei Unternehmen und Verbänden in ganz Deutschland für die Aus- und Weiterbildung und die Personalabteilung verantwortlich. Von 1995 bis 2010 leitete er das Personalwesen der SICK AG in Waldkirch, von 1997 an war er auch Mitglied der Geschäftsführung. Für seine exzellente Personalpolitik wurde er 2006 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seit 2011 berät er mit seiner „Personalmanufaktur“ mittelständische Unternehmen in personalpolitischen Fragestellungen. Er ist ehrenamtlich Vorstandsvorsitzender des bundesweiten demographie-Netzwerkes ddn e.V. und für das Bundesarbeitsministerium Themenbotschafter der Initiative Neue Qualität der Arbeit für Wissen und Kompetenz. In netzwerk südbaden beleuchtet er in einer Reihe von Interviews mit Führungsverantwortlichen aus der Region die veränderten Anforderungen an Führung in der Praxis.
Schwester Magdalena:
Über Schwester Magdalena Löffler OSB
Jahrgang 1956, von 1973 – 1983 Krankenpflegeausbildung, danach Fachkrankenschwester in Psychiatrie, 1983 Eintritt ins Kloster, nach Klosterausbildung 6 Jahre als Pflegedienstleitung und Unterrichtsschwester im Altenheim in Villingen tätig, danach 23 Jahre im Mutterhaus in der Pflege und Betreuung der alten Schwestern. Diverse Kurse in Altenpastoral und geistlicher Begleitung. 2013 Subpriorin, seit 2016 Priorin des Klosters.
Das Kloster:
Kloster St. Lioba in Freiburg
Die Benediktinerinnen von der hl. Lioba wurden 1920 in Freiburg gegründet. Sie leben nach der Regel des hl. Benedikt von Nursia. Dem Charisma ihrer Gründerin entsprechend versuchen sie auf die „Nöte der heutigen Zeit“ Antworten zu geben. Als Einzelne erfahren sie sich gerufen zu einem gemeinsamen Leben in der Gegenwart Gottes. Die Feier des Stundengebetes, der Eucharistie, geistliche Lesung, persönliches Gebet, Arbeit, Zeiten der Stille und des Austausches prägen ihren Tag und den geistlichen Weg der Gottsuche jeder Schwester.
Das Kloster in Freiburg ist das Mutterhaus des deutschen Priorates und der Ort, wo Frauen, die sich dieser Gemeinschaft anschließen möchten,
ihre Ausbildung erhalten. Im Mutterhaus leben 40 Schwestern zwischen 50 und 100 Jahren. Dazu kommen noch 8 Schwestern aus Korea, Indien und Burundi, die zum Sprachstudium und anderen Studien hier wohnen. Zum Kloster gehören ein Gästehaus, ein Klosterladen, ein Kräuter- und Bibelgarten. Außerdem wurden mehrere Wohnungen und eine Wohnetage an Flüchtlinge vermietet. Sie haben ca. 45 Angestellte und mehrere ehrenamtliche Helfer. Es leben 21 Schwestern in Außenstationen in Petersberg/Fulda, Mannheim, Villingen und Heimschule Kloster Wald/Sigmaringen. Zu ihrer Föderation gehören ein Priorat in Kopenhagen, in Bhopal/Indien und in St. Gabriel/Österreich.