In der Region Südbaden gibt es nicht mehr viele Plattenfirmen. Eine Ausnahme: Reach Another System von Jonas Klingberg und Niklas Wille. Sie bringen alle ihre Künstler auf Vinyl heraus.
VON MAXIMILIAN HESS
Bereits 1999 schien das Ende vieler Musikunternehmen besiegelt: Als die Plattform Napster damals online ging, war der Siegeszug der digitalen Verteilung von Musik nicht mehr aufzuhalten. Mehr als 20 Jahre später hat die digitale Revolution in der Musikindustrie tiefe Spuren hinterlassen. Viele kleine Plattenfirmen sind diesem Artensterben der digitalen Moderne erlegen. In diesem Klima ein neues Label zu gründen, scheint geradezu waghalsig. Jonas Klingberg und Niklas Wille haben es 2016 trotzdem gewagt und mit Reach another System einen neuen Akzent in der Freiburger Label-Landschaft gesetzt.
Dienste wie Spotify, ITunes und Soundcloud machen die Distribution von Musik so niedrigschwellig und einfach wie nie zuvor. Darunter leiden allerdings weniger die großen Player wie Universal, Sony oder Warner, die aufgrund ihres überwältigenden Marktanteils im Musikgeschäft als Major-Labels gelten. Deren Geschäftsmodell ist im Grunde genommen zu groß, um zu scheitern: Veröffentlichungen werden unabhängig von ihrem künstlerischen Wert mit einem massiven Etat omnipräsent beworben, neue Veröffentlichungsformen wie Box-Sets sorgen für Chart-Platzierungen und Umsatz. Sogar im eher als anspruchsvolle Liebhaberei verschrieenen Vinyl-Vertrieb können diese Firmen aufgrund der schieren Gesamtauflage ihrer Produktionen immer be-sere Preise bieten als kleine Labels.
Von der Partyreihe zum eigenen Plattenlabel
Reach Another System ist eines dieser klassischen kleinen Labels, wie es sie früher in Freiburg viel häufiger gab und inzwischen nur noch sehr vereinzelt gibt. Das Label wurde von Jonas Klingberg und Niklas Wille gegründet, zwei Freiburger Club-Urgesteinen. Entwickelt wurde Reach Another System aus der gleichnamigen Partyreihe der beiden. Für Klingberg bestand in Freiburg einfach ein gewisser Bedarf:
„Gerade in kleinen Städten mangelt es oft an einem nischen-freundlichen und vielschichtigen Kulturangebot. Labels könnten dort einen zusätzlichen Input geben und so das kulturelle Angebot ausweiten.“
Jonas Klingberg, Reach Another System
Klingberg spricht einen Punkt an, der schon immer einer der Existenzgründe für kleine Firmen war: ihren Lokalbezug. Ein weltweit operierendes Label wie Warner hat es in Deutschland und andernorts schlicht nicht nötig, in kleineren Städten wie Freiburg ein Ohr an der Szene zu haben. Wieso auch? Freiburg ist als Markt nicht relevant, weil zu klein. Und das Scouting neuer Talente übernehmen die lokalen Veranstalter und kleinen Labels. Die wenigsten Künstler beginnen ihre Karriere direkt bei einem Konzern. Sind kleine Labels, also für Künstler ein Zwischenschritt? Eine unterfinanzierte, halb-professionelle Möglichkeit, erste Alben zu veröffentlichen und größere Aufmerksamkeit zu erlangen?
Für Klingberg geht das Angebot, das kleine Labels den Künstlern machen können über diesen „Zwischenschritt“ hinaus: „Man bietet als Label, und wenn es doch ein kleines Nischenlabel ist, der Musik eine breitere Aufmerksamkeit. Nicht zu vergessen ist hierbei auch, dass Labels den Künstlern die ganzen bürokratischen Schritte sowie das finanzielle Risiko abnehmen. So können sich Bands und Künstler vollständig auf die Kunst als solche konzentrieren, ohne sich noch um den meist doch sehr trockenen Rest, wie GEMA-Anmeldung, Vertriebsauswahl, Design etc. zu kümmern”, erzählt er. Für junge, aufstrebende Künstler mag es also sinnvoll sein, sich früh in der Karriere ein Label zu suchen. Aber stimmt das wirklich? Und was springt eigentlich für die Labels dabei raus?
Tatsächlich sind kleine Labels seit Jahren für notorische Verlustgeschäfte bekannt. Die Gründe dafür sind die gleichen, sie treffen die ganze Musikszene hart. Durch das Streaming verlieren physische Tonträger an Wert, die Auflagen sinken und der Digital-Vertrieb kann die Verluste oft nicht auffangen. Es gibt „große“ unabhängige Labels wie zum Beispiel Play it again Sam (PIAS) aus Belgien, die sich seit Jahren erfolgreich über Wasser halten. Bei einer Talk-Runde auf dem diesjährigen Reeperbahn-Festival gab Mitgründer Michel Lambot Einblicke in das Geheimnis ihres Erfolgs. Mithilfe von Kooperationen mit Major-Labels, der immer stärkeren Vereinigung kleiner Einzel-Labels unter dem Dach von PIAS und einer auf inzwischen 40-jährigen Erfahrung beruhenden Talent- und Künstlerpolitik schafft man es Jahr für Jahr finanziell am Leben zu bleiben. Denn es ist auch klar: Selbst wenn man jedes Jahr erfolgreich einen betriebswirtschaftlichen Husarenritt hinlegt, wie es PIAS tut, wird man davon trotzdem nicht reich.
„Für uns ist das Label deshalb auch eher ein Hobby und Liebhaberprojekt, anstatt ein wirkliches Unternehmen.“
Jonas Klingberg
Anders als der mittelgroße Bruder PIAS können und wollen die beiden Label-Chefs keine solchen Strukturen aufbauen. Jonas Klingberg ist Realist, was die betrieblichen Perspektiven des Labels angeht: „Fokussiert man sich heutzutage rein auf digitale Veröffentlichungen, kann es durchaus wirtschaftlich sein, ein Label zu betreiben. Wir wollen jedoch, dass all unsere Releases auf Platte erscheinen“, sagt er. In der Regel verursache das Pressen von Vinyl gerade in Kleinauflagen eher Kosten, als dass es Gewinn bringt.
Vinyl-Hype verursacht hohe Kosten für kleine Labels
Drei Punkte sind charakteristisch für kleine Labels: Vinyl als Kernmedium, das Verhältnis zum Digital-Release und die Deklarierung des Labels als „Liebhaberprojekt”. Diese drei Punkte prägen die zeitgenössische Label-Landschaft. Da wäre zunächst die so omnipräsente Liebe zum Medium Vinyl.
Seit Jahren vergeht kein Monat, in dem nicht irgendeine Kulturredaktion einen Artikel zur Renaissance dieses anachronistischen Mediums veröffentlicht. Und sie alle haben Recht, denn Vinyl ist gefragt wie eh und je, es hat in manchen Genres die CD als meistverkauftes haptisches Medium teilweise überholt. Dieser Hype hat ein Problem bei den Zulieferern ausgelöst. Die Produktionsstrukturen heute sind nicht mehr vergleichbar mit denen aus der Zeit, in der Vinyl noch ein wirkliches Massenformat war. Entsprechend hoch sind die Kosten von Pressungen, gerade für Kleinauflagen, wie Klingberg auch erzählt. Würde man auf Vinyl-Releases verzichten, würde kleinen Labels allerdings oft eines ihrer Haupt-Verkaufsargumente fehlen. Wenn ein Label nur digital agiert, muss es eine besondere Reichweite besitzen, um nicht durch Do-It-Yourself-Veröffentlichungen überflüssig zu werden.
Dieses Do-it-yourself, die Eigenveröffentlichung, ist für ein Label ein zweischneidiges Schwert: Einerseits profitieren natürlich auch die Labels selbst davon, dass der digitale Musikvertrieb so einfach ist wie nie. Andererseits nehmen die Plattformen den Labels Teile ihrer Arbeit weg. Dabei geht es nicht nur um Monetarisierung und Vertrieb, sondern beispielsweise auch um Produktionstechnik.
Früher war die Endbearbeitung eines Songs, das sogenannte Mastering eine Kunst, die fast schon wissenschaftlich-elitär von ausgewählten Ton-Ingenieuren betrieben wurde. Das Mastering war teuer und schwer zugänglich, also haben sich die Labels darum gekümmert. Heute bieten selbst Streaming-Anbieter wie Soundcloud automatisches Mastering auf ihren Websites an. Software mit der man passable Master schaffen kann, gibt es oft für wenige hundert Euro.
Künstlerinnen wie Billie Eilish, Lorde oder der Rapper Post Malone haben ihre ersten Songs und EPs in Eigenregie auf Soundcloud veröffentlicht. Heute sind sie Stars, mit die Größten im Business. Ihnen hat der Verzicht auf ein kleines Label zum Beginn ihrer Karriere nicht geschadet.
Reach Another System: Anlaufstelle für kreative Newcomer aus der Regio
Kleine, lokale Label wie Reach Another System sind also nicht wirklich rentabel. Für Künstler die berühmt werden wollen, gibt es Wege, das auch ohne Label zu erreichen. Und auch das Vinylgeschäft ist im kleinen Rahmen mehr Ärgernis als Goldgrube. Labels sind für Kunden, Bands und Betreiber eine Art Liebhaberstück. Gerade in diesem Kontext bieten sie ein Schaufenster für Nischen-Projekte wie beispielsweise die Reach Another System-Künstler „Schneider”, ein Synth-Pop-Kleinod aus dem Freiburger Stühlinger. Das ist nerdy, sicher. Aber es ist in einer globalen Welt voller Content, Projekten und Plattformen ein Weg, lokal und international Nischen zu finden. Das können kleine Goldgruben sein voller liebevoll kuratierter Act wie zum Beispiel das Amsterdamer Label „Music From Memory”, das sich nur auf die Wiederveröffentlichung verloren gegangener Ambient- und Experimental-Alben aus den sechziger und siebziger Jahren konzentriert. Oder aber eben wie Reach Another System: Ein Label, das einem kleinen Markt wie Freiburg eine Anlaufstelle für kreative Pop-Musik bietet, international vernetzt ist und für eine klare Idee steht. Natürlich, um so etwas zu betreiben, braucht es Liebe. Aber von dieser Liebe gibt es in der Musik-Szene noch genug