Dinçer Güçyeter erhält am 18. Mai in Staufen den angesehenen Peter-Huchel-Preis für seinen Gedichtband „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“. Der Autor gründete 2012 seinen eigenen Verlag. Er publiziert Lyrik und bringt das unpopuläre Genre damit ins Rampenlicht.
VON CHRISTINE WEIS
Am 29. Januar klingelt morgens das Telefon im Verlagsbüro von Dinçer Güçyeter in Nettetal, einer Kleinstadt am Niederrhein direkt an der Grenze zu den Niederlanden. An sich nichts Außergewöhnliches, doch der Anruf kommt aus Staufen. Sabine Scharberth vom SWR ist dran und teilt dem 43-Jährigen mit, dass er den diesjährigen Peter-Huchel-Preis erhält. Güçyeter ist derart überrascht, dass er nicht sofort reagieren kann. Er muss Atem holen, trinkt einen Kaffee und raucht eine Zigarette – dann ruft er zurück.
Es gibt nur wenige Auszeichnungen für deutschsprachige Lyrik – der mit 10.000 Euro dotierte Peter-Huchel-Preis ist die wichtigste. „Die Texte und Gedichte von Peter Huchel lese ich seit vielen Jahren. Mich berührt die Schönheit, der Trost und die Kraft seiner Sprache. Plötzlich selbst mit Huchel genannt zu werden, ist ein unbeschreibliches Gefühl. Natürlich fühle ich mich geehrt“, sagt Dinçer Güçyeter. Peter Huchel gehöre wie Else Lasker-Schüler, Octavio Paz und Gülten Akin zu den Dichtern, die ihn auf seiner langen Reise begleitet haben.
Güçyeters lange Reise zu den eigenen Gedichten und seiner Sprache begann als Kind in der Kneipe seines Vaters. Dort lief Musik, zu der er sich Liedtexte überlegte. Seine Eltern kamen als „Gastarbeiter“ in den 1960er Jahren aus der Türkei nach Nettetal. Die Mutter arbeitete in einer Schuhfabrik, der Vater hatte die Gaststätte. Dinçer Güçyeter war auf der Hauptschule, machte den Realschulabschluss auf der Abendschule und absolvierte eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker. Lesen wurde zu seiner Leidenschaft. Das lag vielleicht an der Provinz und den wenigen Möglichkeiten, die sich für Jugendliche dort boten, vermutet Güçyeter. Seine Jugendstars hießen Ingeborg Bachmann, Leo Tolstoi oder Franz Kafka. Als er 17 ist, beginnt er Theater zu spielen, mit 22 schreibt er seine ersten Gedichte und mit Anfang 30 gründet er den Lyrik-Verlag Elif. Heute ist er Verleger, Autor und arbeitet in Teilzeit als Gabelstaplerfahrer.
„Plötzlich selbst mit Huchel genannt zu werden, ist ein unbeschreibliches Gefühl.“
Dinçer Güçyeter
„Ich hatte weder ein fertiges Buch in der Tasche noch Ahnung vom Buchmarkt“, erzählt Güçyeter. Aber er hatte eine Überzeugung: Er wollte Aufmerksamkeit für seine Texte und die gesamte Gattung Lyrik. Für ihn sei es ein kollektives Versagen, das der Poesie den Weg in die Öffentlichkeit versperre. Gedichtbände kämen in den Kulturressorts im Vergleich zur Prosa kaum vor. Auch bei Veranstaltungsforen und im Bildungsprogramm der Schulen seien Gedichte nur eine Randnotiz. „Für mich ist Lyrik eines der modernsten Genres. Diese Sprache kommt ja nicht von einem anderen Planeten, es ist unsere Sprache, es sind unsere Empfindungen, unsere Gefühle, die in diesen Texten auftauchen“, sagt Güçyeter, der die Lyrik aus der verstaubten Ecke des elitären Bildungsbürgertums raushole. Dafür braucht es den öffentlichen Auftritt und die sozialen Medien.
„Man kann heute keinen Gedichtband veröffentlichen und sich dann in die Kammer zurückziehen und darauf warten, dass Menschen vor der Tür jubeln.“
Dinçer Güçyeter
Der Erfolg gibt ihm Recht: Mittlerweile umfasst das Verlagsprogramm rund 60 Publikationen, darunter viele Debüts und Übersetzungen aus dem Isländischen, Türkischen oder Portugiesischen. Die Anfänge waren schwer, doch seit 2017/18 geht es für den Verlag wirtschaftlich bergauf. Der Gedichtband “Gedanken Zerren“ der Wuppertaler Autorin Özlem Özgül Dünda, die Kindergedichte “Die Muße der Mäuse“ von Uwe-Michael Gutzschhahn oder die isländische Reihe “Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ von Ragnar Helgi Ólafsson (übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer) schafften den Durchbruch.
Der nun preisgekrönte Band „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“ wird vermutlich ein Besteller für den Verlag. Dieser „verhandelt mit expressionistischer Sprachwucht und feinsinniger Ambivalenz familiäre, soziale und kulturelle Verortungen“, heißt es in der Begründung der Huchel-Preis-Jury, und weiter: „Mal im Gestus des Protestes, mal äußerst intim gestimmt, zeigt sich hier ein Dichter der Welt und öffnet […] eine sehr eigene und doch vertraute Welt zwischen dem niederrheinischen Nettetal und Anatolien, zwischen Kind-Sein und Vater-Werden […].“
Ein Auszug aus dem Gedicht „lass uns gehen, Ali“ zeigt die Stärke seiner Sprachbilder und regt vielleicht zum Mehrlesen von Lyrik an: „Dinçer: ich habe meinem kaputten Vater einen Brief geschrieben / er soll sich keine Sorgen um uns machen, hier gibt es Demokratie / hier gibt es für jeden Papagei den sichersten Käfig, Biosamen und so’n Scheiß / und Bildungsbürger, die sich für Schmetterlinge halten: Ave Maria im darkroom […]“.
Am 18. Mai hat Dinçer Güçyeter den Huchel-Preis im Stubenhaus in Staufen entgegengenommen. Es sei für ihn das schönste Gefühl, dass er diesen Preis seinen beiden Kindern mit auf den Weg geben kann.