1740 Kilometer liegen zwischen dem Agape-Haus im ukrainischen Boratyn und dem alten Marienheim in Bamlach. Und eine Flucht, die 42 Menschen mit Behinderung vermutlich das Leben gerettet hat. Eine von vielen Geschichten unwahrscheinlicher Rettungen, wie sie sich derzeit vielfach zwischen der Ukraine und Südbaden abspielen.
VON ANNETTE-CHRISTINE HOCH
„Flexibilität ist das Gebot der Stunde“ – auf diesen Nenner bringt Sozialdezernentin Elke Zimmermann-Fiscella die Hauruck-Aktion, dank derer eine Gruppe von Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen aus der Ukraine Zuflucht im Landkreis Lörrach gefunden hat.
Bis Anfang März hatten die Ukrainer ihr Zuhause in einem weitläufigen Gebäudekomplex im Nordwesten des Landes. Blumengeschmückte Balkone, idyllische Lage im Grünen, professionelle Versorgung: Das Agape-Haus, eine NGO, war eine der ganz wenigen Reha-Zentren für behinderte Menschen im Land. Und dann fielen die Bomben. Marion Koch aus Efringen-Kirchen ist Mitglied des „Perspektivforums Behinderung“. Als Mutter des Schauspielers Samuel Koch ist sie vertraut mit den Bedürfnissen Behinderter, eines sei für sie ganz klar gewesen, als sie via Instagram vom Schicksal der Agape-Bewohner erfuhr: „Da müssen wir was tun, da müssen wir hin.“
In kürzester Zeit standen mehrere Kleinbusse bereit, mit denen die gelernte Krankenschwester und eine Gruppe Freiwilliger zur polnisch-ukrainischen Grenze fuhren. Und tatsächlich schafften sie es, einen Teil der Menschen mit Behinderung heil aus dem Land zu bekommen. Dank eines guten Netzwerks und vieler Kontakte fand eine erste Gruppe in einem Gästehaus in Schwäbisch-Gmünd Unterschlupf – aber wohin mit den anderen Bewohnern, die gerettet werden mussten?
Der rettende Gedanke: das als Marienheim bekannte St. Josefshaus in Bad Bellingen-Bamlach, ein Bau aus den späten 70er Jahren, in dem bis Anfang 2021 Menschen mit Behinderung untergebracht waren. Gleich, nachdem sie zum zweiten Mal in der Ukraine losgefahren war, meldete sich Marion Koch beim Bellinger Bürgermeister Carsten Vogelpohl. Der war beeindruckt von so viel Initiative:
„Wir fanden die Idee von Frau Koch toll und haben gesagt, dass wir das in vier Tagen hinbekommen, die Flüchtlinge unterzubringen.“
Carsten Vogelpohl, Bürgermeister Efringen-Kirchen
Schon am nächsten Tag trafen sich die Entscheider von Landratsamt, Josefshaus und Gemeinde und stimmten sich über das weitere Vorgehen ab. Und zwar in Rekordtempo: „Am Mittwoch war die Abstimmung, am Donnerstag hat das Josefshaus das Gebäude und die Haustechnik aktiviert, das Landratsamt hat den Brandschutz überprüft, und am Freitagvormittag haben wir mit dem Bauhof der Gemeinde, den technischen Mitarbeitern und vielen, vielen Ehrenamtlichen das Haus hergerichtet“, erzählt Carsten Vogelpohl. Abstimmen, ausräumen, putzen, möblieren – all das, wofür es unter normalen Umständen viel Zeit und Geld braucht, war innerhalb weniger Stunden erledigt. Und sogar die administrativen Fragen seien parallel zu allen Aktionen vor Ort geklärt worden, sagt Elke Zimmermann-Fiscella, die als Dezernentin für Soziales und Jugend im Landkreis Lörrach dafür zuständig ist, dass das dreistufige Aufnahmesystem für geflüchtete Menschen korrekt umgesetzt wird. „Wir haben das Ganze mit dem Land Baden-Württemberg abgecheckt und inzwischen auch die Zusage bekommen, dass wir das Haus als Gemeinschaftsunterkunft zur vorläufigen Unterbringung von geflüchteten Menschen anmieten dürfen – ganz regulär und ordnungsgemäß so, wie es nach dem Flüchtlingsaufnahmegesetz sein muss.“
Inzwischen sind die 42 Menschen aus der Ukraine in Bamlach angekommen und sind dabei, sich in der neuen – provisori[1]schen – Heimat einzurichten. Niemand weiß, wie lange sie bleiben werden, sicher ist nur: Dank viel Tatkraft, Empathie und ebenso viel Flexibilität auf allen Ebenen und bei allen Beteiligten haben sie in Rekordzeit ein sicheres Zuhause auf Zeit gefunden. netzwerk südbaden wird im nächsten Heft berichten, wie sie sich eingelebt haben