Der Kunstverein Global Forest bringt nationale und internationale Künstler nach St. Georgen, die in ihren Arbeiten regionale Motive aufgreifen. Erst 2018 gegründet, hat sich der Verein mit Workshops und dem Vogelklangfestival als Ort für zeitgenössische Kunst etabliert.
Text: Christine Weis
„Atelier Kippenberger“ steht ganz oben auf dem Schild am Eingang des markanten Staffelgiebelhauses in der Richterstraße 5a in St. Georgen, direkt darunter „Kunstverein Global Forest e.V.“. 2018 ist der Verein in das ehemalige Atelier von Martin Kippenberger eingezogen. Kurz zuvor hatte der Unternehmer und Kunstfreund Hansjörg Weisser den historischen, 2500 Quadratmeter großen Gebäudekomplex Klosterfabrik gekauft. Seitdem macht er daraus ein Kreativzentrum. Wo einst Uhrzeiger, Fahrradklingeln und Möbel produziert wurden, gibt es jetzt Platz für Kunst, ein Fitness- und Wellbeing-Studio sowie ein Eiscafé. Die lichtdurchflutete Schreinerwerkstatt in der Klosterfabrik mit den hohen Fenstern und dem weiten Blick auf die bewaldeten Bergrücken muss wohl Martin Kippenberger (1953–1997) gefallen haben. Der Performer, Bildhauer, Maler und Fotograf nutzte diesen Raum als Atelier Anfang der 1990er Jahre. Kippenberger gilt als einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten deutschen Gegenwartskünstler. Er lebte kurz und exzessiv in Metropolen wie Berlin oder Los Angeles und zeitweise eben auch in St. Georgen. In den Schwarzwald lockte den skandalumwitterten Provokateur die Unternehmer- und Sammlerfamilie Grässlin, die Werke von Kippenberger in ihrem Kunstraum ausstellt. Dieser liegt nur einen Steinwurf entfernt in der Museumstraße. Doch außer der Verbindung zu Kippenberger hat der Kunstraum Grässlin nichts dem Kunstverein Global Forest zu tun.
„Nicht das Zeigen, sondern das Machen von Kunst steht im Mittelpunkt.“ Oliver Olsen Wolf


aus dem 19. Jahrhundert. Fotos: Irene Pérez Hernández
„Nicht das Zeigen, sondern das Machen von Kunst steht im Mittelpunkt“, erklärt der Vorstand und künstlerische Leiter Oliver Olsen Wolf. Er gehört wie Hansjörg Weisser und acht weitere Personen zum Gründungsteam. Wie kamen sie auf die Idee? „Der Plan entstand 2016 bei einem Mittagessen, zu dem wir uns ziemlich verkatert nach einer Party im Keller des heutigen Hotels Federwerk trafen“, erzählt Wolf. „Wir waren so viele Kulturschaffende und wollten hier einen dauerhaften Raum für zeitgenössische Kunst schaffen.“ Aus dem anfangs losen Zusammenschluss hat sich im Mai 2018 der Verein gegründet. „Unser Ziel ist es, eine Brücke zwischen lokaler Tradition und zeitgenössischer Kunst zu schlagen, von der beide profitieren“, sagt Wolf. Zudem soll die Skepsis gegenüber diesem Genre abgebaut und das Interesse dafür geweckt werden.
Lokal verankert, global vernetzt
Der Verein kocht kein lokales Kultursüppchen, sondern holt nationale und internationale Künstlerinnen und Künstler in den Schwarzwald und bietet ihnen eine Präsentations- und Produktionsplattform. Sie bleiben jeweils ein bis drei Monate für die Dauer einer Residenz. Diese wird jeweils ausgeschrieben und beinhaltet freie Unterkunft und Ateliernutzung, ein monatliches Stipendium von rund 1000 Euro sowie ein Produktionsbudget von 500 Euro plus Reisekostenpauschale. Am Ende der Residenz findet eine Ausstellung oder Aufführung statt. Darüber hinaus überlassen die Stipendiaten dem Verein eine Arbeit als Jahresgabe zurück, die der Verein verkaufen kann. Rund 50 Künstlerinnen und Künstler waren bereits zu Gast.
Wirft man einen Blick auf die Residenzliste der Website, so fällt auf, dass die meisten im Bereich Klangkunst unterwegs sind. Zwei Beispiele: Die Kölner Künstlerin Anna Schütten zeichnete während ihres Aufenthaltes mit Hydrophon und Aufnahmegerät die Geräusche unterhalb der Wasseroberfläche von Flüssen und Seen auf. Mit Klang und Wasser beschäftigte sich auch das Performance-Projekt des ebenfalls aus Köln stammenden Andreas O. Hirsch. Er hatte eine Hohner-Mundharmonika an einem Schnorchel befestigt, um sie unter Wasser zu spielen. „Klangkunst ist ein Schwerpunkt, das hängt auch mit der traditionsreichen Phonoindustrie der Firmen Dual und PE in St. Georgen zusammen“, sagt Wolf. Aber auch SABA mit dem legendären MPS Jazzstudio in Villingen, der Musikinstrumentenhersteller Hohner in Trossingen und die dortige Musikhochschule hätten Einfluss.
Alpsegen und Vogelsang
Seit November arbeitet und wohnt Christina Köhler alias Tintin Patrone in der Residenz. Die deutsch-philippinische Sound- und Performancekünstlerin kam aus Hamburg in den Schwarzwald. Für ihr Projekt „Heidenei“ sammelt sie Stimmen von Menschen, Tieren und Pflanzen. „Heute Abend besuche ich eine Chorprobe hier in der Stadt, und gerade habe ich mich mit einem Schramberger Bauern verabredet, um die Laute einer seiner Kühe aufzunehmen“, erzählt Tintin Patrone bei einem Atelierbesuch Mitte Dezember. „Ich baue ein Stimmenarchiv auf, das in Form eines Alpsegens jeden Tag neu und anders zusammengesetzt werden kann“, sagt sie. Inspiriert dazu hat sie der Brauch des Schweizer Alpsegens, bei dem der Senn oder die Sennin allabendlich von einer Anhöhe aus ein Gebet ruft und Gott und die Heiligen bittet, die Alp vor Unheil zu bewahren. Der Schutzruf gilt soweit der Ruf zu hören ist. Tintin Patrone interessiert, „wie ein solches Schutzritual an die heutige urbane Umgebung angepasst werden kann“. In Zeiten von Klimawandel und -angst könne der moderne Alpsegen Trost spenden und Halt geben. „Dabei soll alles, was sich im Klangraum befindet, ob Steine, Bäume oder Menschen, geschützt werden“, sagt die Künstlerin. Das „Heidenei“ ist demnach also eine Coverversion des Alpsegens.
„Ich baue ein Stimmenarchiv auf, das in Form eines Alpsegens jeden Tag neu und anders zusammengesetzt werden kann.“ Tintin Patrone
Ein schwieriger Aspekt dieses wie vieler Kunstprojekte ist: das Geld. „Wir finanzieren uns aus Mitgliedsbeiträgen, Sponsorengeldern und verschiedenen Fördertöpfen auf Bundes- und Landesebene“, sagt Oliver Olsen Wolf und ergänzt: „Die Förderverfahren sind für mich jedes Mal wie eine Achterbahnfahrt.“ Er macht den Job nebenberuflich, aber mit sehr viel Verve. Der 49-Jährige ist selbst Künstler und Dozent. Er studierte und arbeitete in Zürich an der Hochschule der Künste, ehe er in London an der Queen Mary University tätig war. „Die alten Freunde aus der Heimat haben mich ermutigt, zurückzukommen“, erzählt er. Die Verbindung zu den Kreativen in der Region riss nie ganz ab und so sei er 2017 wieder hier gelandet.
Livestream mit Gezwitscher
Im Herbst gab es eine ungeplante Finanzspritze für den Kunstverein Global Forest: Eine unabhängige hochkarätige Jury wählte ihn zum Gewinner des mit 8000 Euro dotierten Preises für Kunstvereine, den die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV) in Kooperation mit der Art Cologne vergibt. Die Schwarzwälder setzten sich gegen 22 Nominierte durch. Die Jury überzeugte die Verbindung von experimenteller Ausstellungspraxis, regionaler Kulturförderung und internationaler Vernetzung, heißt es in der Begründung. Besonders hervorgehoben hat sie die Arbeit im Bereich der Klangkunst, die ästhetische Erfahrungen mit einem Fokus auf Naturwahrnehmung bietet und die Zusammenarbeit mit der Wissenschaft einbezieht. Mit Bildungsangeboten wie Workshops, Führungen und pädagogischen Programmen erreiche der Verein zudem unterschiedliche Zielgruppen und fördere ökologische Themen. „Der Preis hat uns überrascht, wir freuen sehr über die Anerkennung“, sagt Oliver Olsen Wolf.

Neben den Residenzen gibt es zwei weitere feste Programmpunkte. Jedes Jahr im Mai findet auf dem Zeltplatz im Stöcklewald das Vogelklangfestival statt. Das Soundcamp geht auf eine Idee des britischen Umweltschützers und Radiomoderators Chris Baines zurück. Er rief den International Dawn Chorus Day ins Leben: An einem Wochenende werden weltweit gleichzeitig Vogelstimmen bei Sonnenaufgang aufgenommen. So entsteht ein 24-stündiger Livestream mit Gezwitscher von Südafrika bis zum Stöcklewald, von wo aus Mikrofone den Gesang von Feldlerche, Kuckuck oder Rotschwanz in die Welt tragen. Neben dem Auftritt der gefiederten Hauptdarsteller finden Workshops und Performances statt.

Eine wichtige Zielgruppe des Kunstvereins sind Kinder und Jugendliche. In den Sommerferien bietet Global Forest regelmäßig kreative Formate für 8- bis 12-Jährige an. Dabei kooperiert er mit ortsansässigen Institutionen wie dem Phono- oder Harmonikamuseum. Im vergangenen Jahr machten die Kinder eine eigene Radiosendung, bauten Instrumente, löteten Kontaktmikrofone und dokumentierten von der Rathausdachterrasse aus die Geräusche der Stadt. „Vielleicht inspirieren wir die Kinder dazu, später selbst einmal Kunst zu machen“, hofft Oliver Olsen Wolf. Vielleicht finden sie sich mal nach einer Party zusammen und beschließen einen eigenen Kunstclub aufzumachen.