Wie funktioniert politische Arbeit zu Inklusions-Themen, wenn sie selbst von Menschen mit Behinderung ausgeübt wird? Ramon Kathrein ist blind und erlebt dies seit zwei Jahren als Freiburger Stadtrat.
VON RUDI RASCHKE
Der Freiburger Gemeinderat hat nach der letzten Kommunalwahl fast auf der Hälfte der 48 Sitze einen Wechsel erlebt. Dabei fällt eine neue Stimme besonders auf: Ramon Kathreins Präsenz in Anträgen und Redebeiträgen bringt erfolgreich Themen auf die Agenda, die sonst untergehen könnten: Sei es zu den wenig barrierefreien Haltestellen der Straßenbahnlinie 1 rund um die City, sei es zum Bau neuer Wohnungen, zur Bedeutung ganzer Stadtteil-Anbindungen an den ÖPNV oder zu Gehwegparken und Digitalstrategie.
Wie zuvor der Freie Wähler-Stadträtin Anke Glenz, früher Dallmann, gelingt es Kathrein, Fragen nach Menschen mit Behinderung wirksam zu positionieren. Und in noch mehr Fällen auch Mehrheiten für Entscheidungen zu organisieren.
Kathrein, 40, der seit seinem dritten Lebensjahr blind ist, hat sich 2019 kurzerhand entschlossen mit einer eigenen Kandidaten-Riege für den Gemeinderat anzutreten statt unter „ferner liefen“ bei anderen Parteien. Seine „Liste Teilhabe & Inklusion“ versammelte Menschen mit Behinderung und ohne und gewann praktisch ohne Werbeetat auf Anhieb einen Sitz. Im Gemeinderat schloss er sich mit drei anderen Gruppierungen zur Fraktionsgemeinschaft „Jupi“ (für jung, urban, polarisierend, inklusiv) zusammen, gemeinsam belegen sie fünf Sitze.
Im Hauptberuf hilft er Menschen aus Freiburg und dem Landkreis mit der unabhängigen Teilhabeberatung EUTB. Studiert hat der im österreichischen Lustenau geborene Kathrein Politik, zwischenzeitlich war er als Erlebnispädagoge tätig. Zehn Jahre war er im Behindertenbeirat der Stadt Freiburg engagiert, ehe ihm das neue Mandat eine recht überraschende Veränderung bescherte: „Ich wurde vom nervigen Bürger zum honorigen Gemeinderat“ sagt er pointiert über das Erlebnis seiner Wahl, das durchaus einen „Ruck in der Verwaltung“ mit sich gebracht habe.
Was braucht ein blinder Stadtrat alles, das sei die offensichtlichste Frage gewesen, auch wie barrierefrei die manchmal pfundschweren Papiervorlagen als PDF gestaltet sind. Ein Amtsblatt für Blinde? Das gibt es nicht, sagt Kathrein, obwohl es ja auch vor 50 Jahren schon blinde Menschen in der Stadt gab, die sich für Kommunalpolitik interessierten.
Nicht nur die Verwaltung erlebte aha-Effekte mit ihrem blinden Stadtrat, auch er erlebte sie. Ganz grundsätzlich sei ihm durchaus viel Arbeit beschert worden, sagt er: normal werden Korrekturen, via Fraktions-Anträgen zu städtischen Vorlagen zur Abstimmung gebracht. Für ihn sei es dagegen ungleich schwerer, etwas, das fehlt, komplett neu auf die Agenda zu bringen, sagt Ramon Kathrein. Seine Lektüre macht er mit der Braillezeile, einem Schrift-Display, aber auch mit Sprachausgabe und Vorlesen. An die Grenzen stößt er bei Tabellen oder den Inhaltsangaben, aus denen kein Link-Sprung zum jeweili[1]gen Kapitel möglich ist.
Manches seiner Themen ließe sich nachtragen, manches von vornherein mitdenken, sagt er. Beispielsweise eine leichte Trennung an neuen Radwegen, die als flacher Randstein Radfahrer und Fußgänger in ihrer Spur hält. Aber nicht für alles gibt es eine Lösung, sagt er: Für Radfahrer existiert beispielsweise bei Hochwasser eine Schrankensperrung an der Dreisam, für die Fußgänger ist am Ufer gegenüber lediglich ein Schild vorgesehen, was Menschen mit Sehbehinderung nicht wirklich hilft. Es gibt hier noch viel Arbeit in der Sensibilisierung, als Stadtrat nutzt er die Bekanntheit, dass er von Betroffenen angesprochen und angeschrieben wird.
„Weil ich mich nicht um jede Baustelle kümmern kann, setze ich mich für grundsätzliche Regeln ein.“
Ramon Kathrein
Das Bauen betrachtet er als sein Hauptthema. „Barrierefreiheit ist die Grundlage für alles, ohne sie ist keine Teilhabe möglich“. Bei städtischen Bauten kann er hier mitwirken, bei nicht-städtischen fällt dies schwer. Private Großprojekte wie ein neues Bürohochhaus sind darauf angewiesen, dass Menschen mit Behinderung dort arbeiten und vielleicht gehört werden. Ein Bau wie die neue Uni-Bibliothek wurde vom Uni-eigenen Bauamt betreut und kann als gutes Beispiel genommen werden, wie man es nicht machen sollte: Generell problematische Drehtüren, kein Blindenleitsystem, zur Information müsse man „im Zickzack durch das Gebäude – wenn man den Eingang findet“, sagt Kathrein über die Fehlplanung.
Für seine politische Arbeit bedeuten solche Negativbeispiele: „Weil ich mich nicht um jede Baustelle kümmern kann, setze ich mich für grundsätzliche Regeln ein“. Das bedeutet für ihn einen gewissen Pragmatismus, den er auch im Behindertenbeirat gelernt hat, wo die Fronten einst verhärterter waren – was schlicht daran lag, dass der Ausschuss politisch nicht weit oben genug angesiedelt ist und früher oft zu spät beteiligt worden sei. Was er nicht betreibt, ist eine reine Lobbyarbeit für Sehbehinderte aufgrund eigener Betroffenheit. Kathrein sagt, er wisse sehr wohl, dass allein der Begriff „Barrierefreiheit“ für einen Rollstuhlfahrer ganz andere Herausforderungen darstelle als für einen nicht-Sehenden oder -Hörenden.
„Barrierefreiheit ist die Grundlage für alles, ohne sie ist keine Teilhabe möglich.“
Ramon Kathrein
„Auch ich lerne jeden Tag dazu“, sagt er. Dazu zählt für ihn, dass er gern Lösungen zur Teilhabe für möglichst viele finden will, was in seinen Presseerklärungen rund um die Gemeinderatsarbeit deutlich wird. „Möglichst alle möglichst überall teilhaben lassen“, lautet sein Credo – dadurch werde das barrierefreie Wohnen bei der Stadtbau beispielsweise zu einem Wohnen für Menschen im hohen Alter, für Leute mit Rollator oder mit Kinderwagen, aber auch für den Besuch von Menschen mit Rollstuhl. Inklusion hilft mehr Menschen als gedacht – das ist seine Botschaft.
Er wisse, dass sich politisch nur schwer gegen Inklusion argumentieren lasse, sagt Kathrein, trotzdem müsse er stets gut vorbereitet sein. Es ginge ihm um die Veränderung, nicht um Macht. Obwohl er durchaus auch Ansichten zur Politik für Menschen mit Behinderung auf Bundes- oder Landesebene äußert, ist der Sprung dorthin kein Thema für ihn. „Ich bin Österreicher“, sagt er, er habe bisher kein Bedürfnis gehabt, einen deutschen Pass anzunehmen.
Dass er gewusst habe, worauf er sich einlässt, sagt er über Gemeinderatsarbeit, für die er vorerst noch drei Jahre mandadiert ist. Ramon Kathrein sitzt in vier städtischen Aufsichtsräten plus vier Ausschüssen, deren Sitzungen neben wöchentlichen Fraktionstreffen zu den gut 15 Gemeinderats-Sitzungen pro Jahr hinzukommen.
In seiner Freizeit bereist er Indien und tropische Länder, er geht auch schon mal Bergsteigen und hat Bungee-Sprünge unternommen. Entsprechend furchtlos agiert er nicht nur gegen Krankenkassen, wenn es wie aktuell um die Bewilligung eines neuen Hundes geht (seinen alten hat er aus Tierwohlgründen nach zehn Jahren „berentet“), sondern auch gegenüber der Kommune beim Thema Assistenzhunde allgemein.
Und selbst der Europa-Park durfte nach einem kleinen Brief-Wutausbruch Kathreins einlenken und kam mit ihm in den Dialog. „Als kleine Lektüre empfehle ich Ihnen hierzu die UN-Behindertenrechtskonvention“ hatte er dem Freizeitpark im vorvergangenen Juli öffentlich mitgeteilt, nachdem er von nahezu allen Fahrgeschäften ausgeschlossen worden war. Im Kampf gegen plumpe Diskriminierung hilft manchmal kein Pragmatismus.