Immer wieder liest und hört man, dass 2020 ein verlorenes Jahr gewesen sei. Das kann man allgemein nachvollziehen, da vermutlich die meisten Pläne, beruflich wie privat, weit verfehlt wurden. Auch für die gesamte wirtschaftliche Entwicklung ein herber Einschnitt. Wenn man genauer hinschaut, ist die Gemengelage dennoch unterschiedlich.
VON UDO MÖBES
Es soll sogar Gewinner geben! Aber im Touristiksektor, Gastronomie und Veranstaltungs-Bereich kann man sich 2020 nun wirklich nicht schönreden. Dennoch haben wir in uns in der Summe doch noch „glimpflich“ durch das Jahr geschaukelt. Nicht zuletzt auch durch die staatliche Unterstützung.
Ohne Salamitaktik?
Was hätten wir denn gemacht, wenn wir im März schon gewusst hätten, dass Corona unseren Alltag auch noch im Dezember fest im Griff haben wird? Hätten manche schneller das Handtuch geworfen? Was hätte das für Auswirkungen auf Wirtschaft und Börsen gehabt? Und auf die Menschen? Lethargie oder Tumult? Hätten wir früher mit dem Umschalten angefangen, da man nicht solange improvisieren oder warten konnte? Es ist, wie es ist, 2020 haben wir scheibchenweise durchgestanden!
Wenn plötzlich geht, was vorher undenkbar war
Es ist schon beeindruckend zu sehen, wie anpassungsfähig und veränderungsbereit wir dieses Jahr waren. Über Wochen Home-Schooling? Seit März nur ein paar Tage im Betrieb und sonst alles von zuhause aus erledigt? Das alles hat stattgefunden. In den Lehrbüchern steht, dass die größten Veränderungstreiber die Leidenschaft und der Leidensdruck sind.
Der Leidensdruck bei Corona scheint uns auf jeden Fall viel näher zu sein, als dass sich der Meeresspiegel verändert, die Temperaturen nach oben gehen und gewisse Regionen auf der Welt fast nicht mehr bewohnbar sind. Solange es regional oder zeitlich weit genug weg ist, scheint man nicht bereit zu sein, sein Handeln entsprechend zu ändern. Solange das Leid noch nicht an meiner Haustüre klingelt, hat es ja nichts mit mir direkt zu tun?
Eine neue Arbeitswelt
Zumindest im Dienstleistungssektor hat sich die Arbeitsrealität in diesem Jahr in kürzester Zeit komplett gewandelt. Musste man sich davor noch den Mund fusselig reden, um mal ein paar Tage von zuhause arbeiten zu können, überlegen nun manche Firmen, ob sie von den Mitarbeitern überhaupt fordern können, wieder zurück ins Büro zu kommen. So mancher Arbeitgeber hat in der Not seine Ur-Angst vor der langen Leine überwunden. Und vielerorts gibt es sehr viele positive Erfahrungen damit.
Ein neues Maß an Flexibilität, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ist entstanden, wie es bisher nur den berufsjugendlichen Unternehmen vorenthalten war. Innovative Arbeitsmodelle wie im fernen Silicon Valley sind nun zu einem Stück Arbeitsrealität in der Ortenau, der Baar und im Breisgau geworden. Auch die Digitalisierung in der Büro-Kommunikation hat einen großen Satz gemacht: Wir haben gemeinsam gelernt, dass man in einer Video-Konferenz inzwischen auch Dinge besprechen kann, bei denen wir vorher abgewunken hätten. Und wer hätte gedacht, dass dem einen oder anderen Homeofficer der persönliche Kontakt zu Kollegen sogar abgehen wird? Kollegen nerven nicht (nur), sondern sie fehlen uns!
Aufgestautes Fernweh
Wie schön war das? Auch wenn die angeblich zurück gekehrten Delfine in Venedigs Kanälen ein Fakefoto waren, war dort das Wasser so klar wie schon lange nicht mehr. Leider steht jetzt schon fest, dass sich das Wasser dort bald wieder eintrüben wird. Sobald die Grenzen geöffnet und die Reisewarnungen zurückgenommen sind, wird es die Mehrheit von uns in die weite Welt tragen.
Die Angebote der Billig-Airlines werden es uns leicht machen, schleunigst nachzuholen, auf was wir ein ganzes Jahr verzichten mussten – Kurztrip, all-inclusive oder Fernreise und Kreuzfahrt werden wieder boomen. Es steht zu befürchten, dass vieles von dem, was man sich nicht nur „wegen Corona“ sondern auch aus „Umwelt-Gründen“ zurecht geredet hat, dann wieder schnell über Bord geworfen wird.
Anstrengender Diskurs
Die Zeit der schnellen und einfachen Antworten scheint nun endgültig vorbei zu sein. In Sachen Corona konnten wir 2020 an uns selbst beobachten, wie es uns meinungsseitig von der einen auf die andere Seite gehauen hat. Zusätzlich hat uns irritiert, wie sich das eigene Umfeld verändert und verhalten hat. Dachte man bisher, man verstehe sich gut, haben sich um das Thema Corona teilweise dann Gräben aufgetan. Diese Unsicherheit 2020 war ein gefundenes Fressen für jegliche Meinungs- und Angstmache. Nicht nur durch klassische Medien, sondern auch in den Sozialen Medien.
In Zukunft wird es eine Herausforderung für unsere Gesellschaft sein, wie wir bei strittigen Themen den Diskurs auf Augenhöhe führen, ohne uns zu zerfleischen. Man hat den Eindruck, dass wir das Debattieren verlernt haben. Als könnte man es schier nicht aushalten, mit offenen und ungelösten Fragen auseinander zu gehen. Auf politischer Ebene führt vermutlich auch das nervöse mediale Umfeld dazu, vorschnell Positionen zu beziehen. Prinzip: je schneller, desto besser. Hier wäre es wünschenswert, dem offenen Diskurs wieder mehr Zeit zu geben.
Reflektieren und Navigieren
Wer seine Sicherheit und Motivation aus Zukunftsplänen zieht, hat es 2020 sehr schwer gehabt. Statt darüber zu grübeln und sich in Gedanken zu verlieren, hatten viele Coachings mit der persönlichen Reflektion und Navigation zu tun. In den letzten Jahren war das Thema hier, dass alles immer schneller wurde und das Gefühl war, dass man nur noch hinterher laufen kann. Nun konnte man 2020 die Lücken zum Reflektieren und Navigieren nutzen.
Das Jahr 1 n.C.
Wer von einem schweren Krankheitsverlauf gebeutelt wurde oder gar Freunde und Angehörige verloren hat, der wird sich dieses Jahr nicht schönreden können. Auch diejenigen, die wirtschaftlich schwer betroffen sind und existenziell bedroht wurden, hätten gut auf 2020 verzichten können. Wenn man sich davon löst, dann wird es sich vermutlich erst in den nächsten Jahren zeigen, ob 2020 wirklich ein verlorenes Jahr war! Verloren wäre es, wenn wieder alle zurück ins Business-Hamsterrad gehen würden.
Verloren wäre es, wenn wirklich jeder wieder ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil achtete, ungeachtet der Auswirkungen für andere. Verloren wäre es, wenn sich die Politik nur wieder mit sich selbst beschäftigte und die Gesellschaft wieder in Politikverdrossenheit abtauchen würde. Auch wenn die Unkenrufe schon laut werden: die Chancen stehen gut, dass 2020 ein einschneidender Wendepunkt ist und auf verschiedenen Ebenen zum gefühlten Neuanfang der Zeitrechnung führen kann.
Im Sinne von „das war vor oder nach Corona?“. Dazu kann jeder seinen Beitrag leisten, in dem er mit sich und seinem Umfeld weiterhin so umgeht, wie wir das 2020 gelernt haben. Wir haben es selbst in der Hand!
Udo Möbes ist selbstständiger Berater, Trainer und Business- Coach und betreibt seit 2015 mit seiner Frau Ulrike Peter das Seminarhaus „Saiger Lounge“ im Schwarzwald. Er begleitet Change-Prozesse in Unternehmen und coacht Geschäftsführer-Teams oder einzelne Führungskräfte. Für das Digital-Unternehmen Virtual Identity mit 180 Mitarbeitern in Freiburg, München und Wien war er zuvor 16 Jahre lang an der Spitze tätig, davor arbeitete er 11 Jahre für die Haufe Mediengruppe. Udo Möbes gibt an dieser Stelle regelmäßig seine Erfahrungen mit Coaching- Themen an unsere Leser weiter.
1 Kommentar
Ein richtig gut geschriebener Artikel von Ihnen. Gerade im Bereich Coaching ist Corona und vor allem die Zeit danach extrem im Fokus. Wie soll das alles wieder weiter gehen ? Wird die Geschwindigkeit direkt wieder unerträglich werden ? Wie sieht mein Berufsleben nach Corona überhaupt aus ? All das beschäftigt auch meine Klienten im Coaching. Daher ist es schön solche Erfahrungen und Gedanken von Kollegen lesen zu können.