Global Player, Hidden Champions, Industrie und Handwerk, Obst- und Weinbau, Tourismus sowie 900 Kleinbrenner – in der fünftgrößten Stadt in der Ortenau gibt es einen breiten Branchenmix und viel Natur.
Text: Christine Weis • Fotos: Alex Dietrich
Fährt man von der A5 kommend auf der B28 ins Renchtal Richtung Oberkirch öffnet sich ein Garten Eden: Kirsch- und Apfelbaumplantagen, Erdbeer- und Spargelfelder, Weinreben. Von Aprikosen bis Zwetschgen wachsen hier sämtliche Obstsorten. Am Horizont recken sich die Bergketten des Mittelschwarzwalds empor und zeichnen einen dunkelgrünen Rand um das Panorama. Die Landschaft ist nicht nur schön, sondern auch ertragreich. Rund die Hälfte der Gemarkung Oberkirch ist landwirtschaftliche Nutzfläche. Seit Anfang des Jahres beteiligen sich die hiesigen Bäuerinnen und Bauern an der landesweiten Protestaktion ihrer Zunft. Sie kritisieren die Agrarpolitik von Bund und EU, fordern faire Preise, bessere Wettbewerbsbedingungen, weniger Regularien und mehr Anerkennung. Am Ortseingang soll ein symbolisierter Friedhof mit einer Reihe von Holzkreuzen auf ihre Lage hinweisen. Auf einem Plakat steht: „In Gedenken an 530 Landwirtschaftsbetriebe, welche jährlich in ‚the Länd‘ sterben. Oberkirchs Oberbürgermeister Gregor Bühler steht hinter den Landwirten, doch diese Protestform findet er fragwürdig. „Mit negativen Botschaften kann man die Menschen nicht überzeugen“, sagt Bühler. Seiner Meinung nach ist nicht allein die Politik gefordert, vor allem auch die Verbraucherinnen und Verbraucher sollten vermehrt regional erzeugte Lebensmittel kaufen, um so die Landwirtschaft zu unterstützen und den Handel zu mehr Kooperation mit den lokalen Akteuren zu bewegen.
Unternehmen Rathaus – Kunde Bürger
„Miteinander reden und machen, statt zu meckern“, sagt Gregor Bühler, „das sind die Hebel, mit denen man etwas bewegen kann.“ Der 40-Jährige ist ein Macher, kein Verwalter. Seinen Tatendrang spürt man im Gespräch. Manche Veränderung geht ihm zu langsam und viele Pflichtaufgaben vom Bund hemmten eher Entwicklungen, statt sie zu fördern, meint er. Als Beispiel erwähnt er die Standards im Bereich Kinderbetreuung. Ein Jahr ist Bühler im Amt, seitdem weht ein frischer Wind im Rathaus, er nennt den neuen Kurs „Change“. „Wir brechen verkrustete Strukturen auf, arbeiten effizienter, serviceorientiert und verstehen Bürgerschaft und Betriebe als unsere Kunden und nicht als Antragsteller“, erklärt der Oberbürgermeister und Vorgesetzte von 480 Angestellten. Coaching für Führungskräfte und Teambuildings für Mitarbeitende begleiten die Veränderungsprozesse. „Erfolgreiche und sinnhafte Arbeit ist nicht allein von fachlichen Kompetenzen abhängig, genauso wichtig sind Selbstreflexion, Empathie, Identifikation mit der Arbeit und das Gemeinschaftsgefühl der Belegschaft“, sagt Bühler. Das Rathaus agiere mehr und mehr wie ein Unternehmen. Bühler integriert dabei seine Erfahrungen aus der Businesswelt. Er studierte internationales Steuerrecht, Management und Leadership, arbeitete in der Steuerberatung für mittelständische Unternehmen und große Konzerne. Aus familiären Gründen kam er vor einigen Jahren zurück nach Haslach im Kinzigtal, wo er in einer Arbeiterfamilie groß wurde. Bevor der CDU-Mann und zweifacher Vater ins Oberkircher Rathaus einzog, war er von 2018 bis 2023 Bürgermeister der Gemeinde Sasbach.
Handwerk und Industrie
Vom Rathaus zur Wirtschaftskraft der mit 21.000 Einwohnern fünftgrößten Stadt im Ortenaukreis mit ihren acht Ortsteilen Bottenau, Butschbach-Hesselbach, Haslach, Nußbach, Ödsbach, Ringelbach, Stadelhofen, Tiergarten und Zusenhofen. Rund 8300 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte zählt die Kommune und das produzierende Gewerbe wächst. „Wir haben eine gesunde mittelständische Industrie und einen starken Mittelstand“, sagt Wirtschaftsförderin Nadine Meier. „Oberkirch ist ein attraktiver Standort für Betriebe und hat sich als solcher in den letzten Jahren positiv entwickelt.“ Viele Bestandsbetriebe melden Erweiterungsbedarf, und es gebe auch Interesse für Neuansiedlungen, berichtet Meier. „Man kann hier gut leben und arbeiten.“ Genau aus diesen Gründen ist die Wirtschaftsförderin selbst vor zehn Jahren nach Oberkirch gekommen. Davor war sie in ähnlichen Funktionen in den deutlich größeren Städten Wolfsburg und Heidelberg tätig.
Der Branchenmix ist vielfältig und reicht vom Textilunternehmen Alfred Apelt über den Obstgroßmarkt Mittelbaden bis zu Kimmig Entertainment, das bekannte Shows wie „Verstehen Sie Spaß?“ oder die „Helene Fischer Show“ produziert. Zu den größten Arbeitgebern zählen der Automobilzulieferer Progress-Werk Oberkirch PWO mit rund 1000 Beschäftigten, Ernst Umformtechnik, wo 450 Frauen und Männer arbeiten, und Koehler Paper mit rund 900 Mitarbeitenden.
Zu den Handwerksbetrieben zählen etwa Fensterbauer Hollnberger, die Möbelmanufaktur Gieringer oder Frammelsberger R. Ingenieur-Holzbau. Letzterer wurde von der Handwerkskammer vor Kurzem als Handwerksbetrieb des Jahres ausgezeichnet. Die Kammer würdigte das Engagement in den Bereichen Mitarbeiterförderung, Nachwuchsgewinnung, Integration, soziales Engagement und Klimaschutz. Elektro Birk ist ebenfalls frisch ausgezeichnet. Der Betrieb erhielt von der Fachzeitschrift „Das Elektrohandwerk“ den Deutschen Unternehmerpreis Elektrohandwerk 2024.
Hält man Ausschau nach Hidden Champions, wird man ebenfalls fündig. Müller Brennereianlagen gehört dazu. Seit 1929 entwickelt und produziert das Familienunternehmen Anlagen zur Herstellung von Hochprozentigem wie Aquavit, Grappa, Gin, Kirschwasser oder Whiskey. Müller ist einer der wenigen seiner Art. Über einige Kunden und deren Spirituosen kann man sich auf der Firmenhomepage informieren. Die Beiträge lesen sich wie ein Reiseführer, da gibt es die Gin-Destille in Melbourne oder eine Brennerei in einem Hochhaus in Hong Kong. Vermutlich stehen auch in den rund 900 Hausbrennereien in Oberkirch meist Müller-Anlagen.
Mit der Linck Holzverarbeitungstechnik GmbH ist laut eigenen Angaben Europas größter Hersteller von Sägewerksanlagen und der weltweit führende Anbieter von Profilieranlagen in Oberkirch beheimatet. Ein weiterer Innovationstreiber ist Ruch Novaplast. Der Kunststoffhersteller erwirtschaftet 50 Millionen Euro und produziert unter anderem Formteile, komplette Baugruppen und funktionalisierte Gehäusesysteme aus Partikelschaum. Die Anwendungsbereiche umfassen unter anderem die Bereiche Medizintechnik und Gebäudetechnik, beispielsweise Wärmepumpen.
Nach den statistischen Zahlen vom Statistischen Landesamt aus dem Jahr 2022 beträgt der Anteil der Gewerbefläche an der gesamten Bodenfläche jedoch nur 2 Prozent. „Wir brauchen unbedingt mehr Entwicklungsmöglichkeiten für bestehende Firmen und jene, die sich ansiedeln wollen“, sagt Oberbürgermeister Bühler. Bevor auf der grünen Wiese gebaut wird, wolle man die bereits erschlossenen, in Privatbesitz befindlichen Grundstücke nutzen. 40.000 Quadratmeter seien das in Summe. Bühler hofft, dass die Eigentümerinnen und Eigentümer ebenfalls am Ausbau der bereits bestehenden Gewerbegebiete interessiert sind und man ins Gespräch komme.
Ein Unternehmen, das seinen Stammsitz Oberkirch langfristig sichern will, ist die Koehler Group. Als Indiz dafür kann die 70 Millionen Euro teure Investition des Papierherstellers in den Bau eines Biomasse-Kraftwerks auf dem Firmengelände gedeutet werden. Die Energieträger sind Hackschnitzel, Grünschnitt und Sägerestholz. Koehler betreibt weitere Werke in Kehl, Greiz, Weisenbach und Willstätt. Insgesamt erwirtschaften die 2500 Mitarbeitenden einen Umsatz von rund 1,3 Milliarden Euro. Jährlich bringt der Konzern über 500.000 Tonnen Spezialpapiere und Pappen auf den weltweiten Markt.
Eine Stadt sucht ihre Marke
Metropole der Kleinbrennereien, Winzerort, Erdbeerhochburg, Kleinstadtperle, Schreibhort des weltbekannten Barockdichters Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Oberkirch hat bereits viele Zuschreibungen. Nun sucht die Kommune einen Markenclaim, der diese Vielfalt auf den Punkt bringt. Wofür steht Oberkirch? Diese Frage geht an die gesamte Stadtbevölkerung, allen voran die Akteure aus den Branchen Gastronomie, Gewerbe, Handwerk, Landwirtschaft, Tourismus, Industrie sowie Vereine und Schulen. Sie alle können sich am Markenbildungsprozess beteiligen. Ende des Jahres soll es ein Leitbild samt Slogan und Logo geben. Mit dem neuen Design will sich die Stadt zeitgemäß und authentisch präsentieren. Parallel zur Markenfindung läuft ein Projekt für die Innenstadtentwicklung. Neben dem Tagesgeschäft ist also viel zu tun. Gregor Bühler will die Bürgerschaft wie auch seine Mitarbeitenden für diese Arbeiten begeistern: „Jeder kann etwas beitragen, dass es in Summe besser wird.“