Furtwangen ist kompakt. Für die gerade mal 9000 Einwohner gibt es ein erstaunlich breites Angebot: viele Schulen, eine renommierte Hochschule, ein Skiinternat, zahlreiche Industrieunternehmen und mehrere Tourismusbetriebe. Porträt der Kleinstadt, die sich den Zusatz „Donauquellstadt“ aufs Ortsschild schreibt.
Text: Kathrin Ermert • Fotos: Alex Dietrich
Alle Wege nach Furtwangen führen über den Berg. Von oben kommend sieht die kleine Stadt fast ein bisschen putzig aus. Aber anders als im benachbarten Triberg prägt nicht der Tourismus diese Schwarzwaldgemeinde, sondern die Industrie. Entlang der Breg reihen sich die Produktionsgebäude aneinander: Siedle, Ketterer, Dold, Ganter, Reiner, Koepfer, Wehrle, IEF Werner, Sauter stellen unter anderem Gegensprechanlagen, Getriebe, Schaltgeräte, Griffe, Kartenleser, Stempel, Werkzeugmaschinen, Wasserzähler, technische Federn her. Typische, meist inhabergeführte Mittelständler mit 100 bis 500 Beschäftigen. Und quasi mittendrin: die renommierte Hochschule Furtwangen (HFU). Rund 5000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte zählt der gesamte Ort, davon allein 3500 in der Industrie. Weil in der 9000-Einwohner-Stadt gar nicht so viele Menschen im erwerbsfähigen Alter leben, gibt es fast 3000 sogenannte Einpendler.
Von der Uhr zur Informatik
Alexandra Bormann ist seit wenigen Monaten eine davon. Die 48-Jährige hat im März die Leitung der HFU übernommen – als erste Frau in deren langer Geschichte. Wie viele der ansässigen Unternehmen hat auch die Hochschule ihre Wurzeln in der Uhrentradition der Stadt. Sie entstand aus der ersten deutschen Uhrmacherschule, die Robert Gerwig 1850 gründete, und entwickelte sich in der Nachkriegszeit zur Ingenieurschule. Heute liegen die Schwerpunkte neben der Feinmechanik auf IT, Medizintechnik und Medien. Die HFU zählt am Hauptsitz sowie den vier Standorten Schwenningen, Tuttlingen, Rottweil und Freiburg insgesamt 422 Beschäftigte (223 akademische und 199 nichtakademische) sowie knapp 4500 Studierende und liegt damit laut amtlicher Statistik auf Platz 8 von 19 staatlichen Hochschulen für Angewandte Wissenschaft in Baden-Württemberg. Allerdings geht die Zahl der Erstsemester seit Jahren zurück. 2014 studierten noch fast 1000 junge Menschen mehr in Furtwangen. Ist das ein Problem, Frau Bormann?
Die Rektorin antwortet mit einer Gegenfrage: „Ist die Größe noch das Ziel? Oder die Qualität?“ Man komme von einem hohen Niveau und müsse die Zahl ins Verhältnis zur Größe der Stadt und Region setzen, findet Bormann, die als neue Teilnehmerin der Rektorenkonferenz selbst überrascht war, bei Voten mehr Stimmen als die Kollegin der Hochschule Stuttgart zu erhalten. Dass sich die HFU in einer ländlichen Region mit schrumpfender Bevölkerung behauptet, heißt für die Rektorin im Umkehrschluss: Sie ist attraktiv. Bormann sieht die HFU als „absoluten Innovationsmotor“. Nicht nur die hiesigen Mittelständler kooperieren mit der Hochschule, Transferprojekte gibt es auch mit Konzernen wie Bosch oder Siemens. Wobei Bormann das Wort Transfer nicht mag. „Co-Creation“ findet sie passender, denn das beinhalte die Verbindungen von Studierenden zu den Firmen während des Studiums in Form von Praktika oder Abschlussarbeiten. So kämen auch die Bedürfnisse der Unternehmen bezüglich der benötigen Qualifikationen zurück in die Hochschule.
Allein: Nicht immer deckt sich der Wunsch der Wirtschaft mit dem der jungen Leute. Immer weniger entscheiden sich für die klassischen Ingenieurstudiengänge wie Elektrotechnik, obwohl gerade solche Fachkräfte für die allerorts anstehenden Transformationen benötigt werden. Das ist kein spezielles Problem von Furtwangen, sondern ein bundesweites. Bormann, die selbst Germanistik, Philosophie sowie Biologie studiert und in Germanistik promoviert hat, bedauert den Renommee-Verlust des „deutschen Ingenieurs“. Sie will den Purpose, die gesellschaftliche Relevanz der Ingenieurwissenschaften, betonen. Das ist eine abstrakte Idee. Ein konkreter Teil davon: Die Fächer werden neu gemischt, es sollen weniger interdisziplinäre Fakultäten sein, vier statt neun, und auf diese Weise attraktivere Studiengänge entstehen. „Wir befinden uns in einem Umstrukturierungsprozess, um die Hochschule zukunftsfähig aufstellen“, sagt Bormann.
Dem Standort treu
Das Wort Umstrukturierung verwendet auch Peter Strobel. Der 61-Jährige ist einer von drei Geschäftsführern der Firma Siedle, die mit knapp 500 Mitarbeitenden vor allem Gegensprechanlagen fertigt. Fast an jeder zweiten deutschen Haustür hängt eine. Dass Siedle der größte private Arbeitgeber Furtwangens ist, mag Strobel nicht behaupten, aber es ist das älteste Industrieunternehmen der Stadt. Es entstand als Gießerei auf einem Schwarzwaldhof, die Glocken für die Uhrenindustrie fertigte, baute im 19. Jahrhundert eine Fabrik in Furtwangen und war ein Pionier der aufkommenden Telefonie. Nächstes Jahr feiert Siedle sein 275-jähriges Bestehen. Und den Launch einiger neuer Produkte, die dem Unternehmen wieder Schwung geben sollen.
Denn, daraus macht Strobel kein Geheimnis, die zurückliegenden Jahre waren nicht einfach für Siedle: Die von der Pandemie verursachte Beschaffungskrise und der Ukrainekrieg samt Sanktionen, die das gerade entstehende Russlandgeschäft beendeten, setzen dem Unternehmen zu. Es hängt zudem an der schwächelnden Baukonjunktur und bekommt neue Konkurrenz von Google und Amazon. Auch leide man an der eigenen Qualität: Die Anlagen halten Jahrzehnte. Produktionsverlagerung war indes nie ein Thema. „Die Treue zum Standort Furtwangen steht in den Statuten der Firma“, sagt Strobel. Rund 80 Prozent der Wertschöpfung finden hier statt. Damit das so bleibt, investiert man einerseits in Dienstleistung: Das neue Labor, das die für alle Funktechnikgeräte verpflichtende elektromagnetische Verträglichkeit (EMV) prüft, tut dies auch im Auftrag anderer wie beispielsweise Medizintechnikhersteller. Andererseits stellt Siedle gerade sein Kerngeschäft Hauskommunikation technologisch auf neue Füße.
Überregionale Magnete
Francesca Hermann ist zuversichtlich, dass sich die Industrie in Furtwangen von der aktuellen Krise erholt. „Die Unternehmen hier haben schon einige Strukturwandel hinter sich“, sagt die Marketingleiterin der Stadt. Zwar merke man, dass die Stimmung in einigen Firmen zurzeit nicht so gut ist, manche auch mit Kurzarbeit zu tun haben. Die Gewerbesteuereinnahmen seien aber recht konstant, und das neue interkommunale Gewerbegebiet „Ob der Eck“ zwischen Furtwangen und Gütenbach schon komplett vergeben. Platz sei ein wichtiges Thema, denn das Tal der Breg limitiert die Expansionsmöglichkeiten, sagt Hermann. Deshalb findet sie das Gewerbegebiet wichtig. Im September gibt es dort eine Leistungsschau mit mehr als 50 Betrieben und Vereinen aus Gütenbach und Furtwangen. Die hat eher lokale Bedeutung. Zur dreitägigen Antik Uhrenbörse Ende August erwartet man indes Händler aus ganz Europa und der Welt. Parallel findet ein Trödelmarkt statt, der der größte Flohmarkt Südbadens sei, betont die Stadtmarketingleiterin. „Da freuen sich alle drauf und kommen rechtzeitig aus dem Urlaub zurück.“
Überregionale Wirkung wird auch das Siedle-Haus haben, das die Kunststiftung des 2019 verstorbenen Firmengründers Horst Siedle und seiner Frau Gabriele gerade bauen lässt. Denn in dem von Stararchitekt Arno Brandhuber geplanten Gebäude machen die Siedles ihre Kunstsammlung der Öffentlichkeit zugänglich, die vor allem Werke der Klassischen Moderne enthält, beispielsweise von Pablo Picasso und Ernst-Ludwig Kirchner. „Das Siedle-Haus wird auf die ganze Stadt strahlen“, vermutet Francesca Hermann. Es könnte auch für mehr Übernachtungsgäste sorgen, was allerdings eine Herausforderung wird, denn es gibt nur wenige Hotels.
Furtwangen ist keine klassische Tourismusdestination. Als größter Magnet der Stadt zieht bislang das Uhrenmuseum jährliche einige tausend Menschen an. Es hat zum 1. August für voraussichtlich 18 Monate wegen Umbauarbeiten geschlossen und wird energetisch saniert. Wachsender Beliebtheit erfreut sich auch die Donauquelle, die Furtwangen für sich beansprucht, weil auf ihrer Gemarkung der größte Donauzufluss, die Breg, entspringt. Im kuriosen Streit mit Donaueschingen um den Donauursprung hat die Hochschulstadt einige Etappensiege erzielt: Seit zwei Jahren darf sie auch den Zusatz „Donauquellstadt“ auf ihr Ortsschild schreiben. Und dem beliebten Donauradweg, der von Donaueschingen bis zum Schwarzen Meer führt, wurde eine Etappe Null hinzugefügt, die an der, wie die Furtwanger finden, echten Donauquelle vorbeiführt.
An der Quelle
Die Quelle liegt etwas außer- und oberhalb der Kernstadt am Fuße des Rohrhardsbergs nordwestlich von Furtwangen. Der Katzensteig, eine kleine Straße, die an der Abzweigung als Sackgasse gekennzeichnet ist, führt die rund zehn Kilometer dorthin, einmal mitten durch einen Hof. Man wähnt sich am Ende der Welt und wundert sich ob des Trubels rund um das Höhengasthaus Kolmenhof, das direkt an der Donauquelle liegt. Rund 150 Kinder und Erwachsene wuseln auf der Terrasse und dem Spielplatz vor dem Hotel-Restaurant. „Eigentlich haben wir heute Ruhetag. Aber einmal im Jahr kommen die Familien der jungen Patienten der Nachsorgeklinik Tannheim auf ihrem Ausflug bei uns vorbei und bekommen Getränke und Eis“, erklärt Christoph Dold den Auflauf.
Er führt den Kolmenhof mit 80 Plätzen drinnen und 100 draußen sowie 30 Betten in dritter Generation gemeinsam mit seiner Frau Katharina, einer Münchnerin. Sie haben sich während der Ausbildung im Bareiss in Baiersbronn – er lernte Koch, sie Restaurantfachfrau – kennengelernt, gemeinsam die in der Branche üblichen Wanderjahre verbracht und zuletzt ein Hotel an der Ostsee geleitet, ehe 2008 die Nachfolge des Kolmenhofs anstand. 1957 eröffneten Christoph Dolds Großeltern, die gleichzeitig die Landwirte vom Kolmenhof-Bauernhof waren, die neu erbaute Gastwirtschaft mit der Idee, Kurgäste zu beherbergen. Die Donauquelle war damals noch kein Thema, wenngleich die Geologin Irma Öhrlein in den 1950er-Jahren mit Farbproben nachgewiesen hatte, dass das Wasser der Bregquelle in der Donau landet, und sogar der französische Meeresforscher Jacques-Yves Cousteau dort eine Dokumentation drehte.
Die kleine Wasserpfütze wenige Meter unterhalb des Kolmenhofs sieht reichlich unspektakulär aus, zieht aber viele Menschen an, seit sie als Donauquelle gilt. Auch nachdem die Busse der Nachsorgeklinik abgefahren sind, tauchen immer wieder Gäste auf. Es kämen Menschen aus Baden-Württemberg und Deutschland ebenso wie von weiter weg, seit einigen Jahren vermehrt aus Rumänien, berichtet Christoph Dold. „Wir haben jedes Jahr Filmteams und andere Journalisten hier.“ BBC, SWR, Le Figaro, Geo Saison und mehr. Auch die Martinskapelle wenige hundert Meter weiter oben besuchen viele. In Sichtweite der Donauquelle führt zudem der Westweg, eine Fernwanderroute, vorbei. Und im Winter ist die Gegend bei Langläuferinnen und Langläufern beliebt.
Sport und Schule
Furtwangen ist im deutschen Wintersport ein wichtiger Standort. Denn hier sitzt seit 1984 das Skiinternat (SKIF) – im Mai hat es 40-jähriges Bestehen gefeiert. Auf der Alumniliste stehen zahlreiche deutsche und Weltmeister, sogar Olympiasieger. Die Skispringer Sven Hannawald und Martin Schmitt haben im SKIF gelebt und trainiert, ebenso die Biathleten Simon Schempp, Benedikt Doll und Simone Hauswald, die Langläuferin Stefanie Böhler sowie die Nordischen Kombinierer Georg Hettich und Fabian Rießle, um nur einige zu nennen. Anfangs absolvierten die Schüler (die ersten Mädchen kamen erst 1995) eine Ausbildung an der benachbarten Berufsschule, und das SKIF umfasste auch alpine Disziplinen. Mittlerweile hat man sich auf Skisprung, Biathlon sowie Nordische Kombination konzentriert, und die Internatsangehörigen besuchen verschiedene Schulen in der Stadt. Unter anderem das Otto-Hahn-Gymnasium, an dem SKIF-Leiter Niclas Kullman selbst als Englisch- und Sportlehrer arbeitet.
Die Kids kommen meist im Alter von 14 oder 15 ins Internat und bleiben drei bis fünf Jahre, berichtet Kulllmann, während er durch den Mädchen- und den Jungstrakt führt. Man kann sich nicht bewerben, sondern wird berufen. Landeskader ist in der Regel die Mindestvoraussetzung. Die meisten der derzeit 27 Jugendlichen im SKIF stammen aus Baden-Württemberg. Bis 2010 betrieb die Ordensgemeinschaft der Salesianer Don Bosco das Skiinternat, Seither ist es eine GmbH mit der Stadt Furtwangen, dem Internationalen Bund und der Stiftung Olympianachwuchs Baden-Württemberg als Gesellschafter. Die Familien der Jugendlichen zahlen fast 900 Euro monatlich, wobei die meisten Landeszuschüsse und andere Unterstützung bekommen. Trotz der Beiträge und der öffentlichen Träger sei das finanzielle Überleben ein Dauerthema, sagt Kullmann. Über Sponsoren würde er sich freuen. Immerhin: Ein bisschen Zusatzverdienst verschafft dem SKIF das angegliederte Bregtal Hostel.
Eine andere Herausforderung fürs Internat wie für den Schwarzwald generell sind die immer schneeärmeren Winter. 1981/82 gab es 129 Wintersporttage mit einer Schneehöhe von mindestens 30 Zentimetern in Furtwangen, im Winter 2022/23 keinen. Von wenigen Ausreißerjahren abgesehen, nimmt die Schneemenge seit 40 Jahren kontinuierlich ab. Das hat der Journalist und Geograf Bernward Janzing gemessen, der seit 1984 Wetterdaten in Furtwangen erfasst. Bedroht diese Entwicklung die Existenz des SKIF? Nein, sagt Niclas Kullmann: „„Wir reagieren schon seit geraumer Zeit mit Mobilität und Flexibilität auf die schwachen Winter. Zudem gibt es seit Kurzem für unsere Kerndisziplinen im Schwarzwald die Möglichkeit des Snowfarming sowie für die Skispringer und Kombinierer hybride Sprungschanzen.“
Flexibel auf Herausforderungen zu reagieren, ist nicht nur im Wintersport angesagt. Hochschule und Unternehmen in Furtwangen tun es gleichermaßen. Es ist ein Motto der kleinen Stadt mit ihren großen Namen.