Der Puls vieler Kommunen schlägt in ihren Fabriken. Sie prägen das Stadtbild und bestimmen die Geschichte von Orten wie Bötzingen, Hornberg, Oberkirch – oder Freiburg. Doch was passiert, wenn eine Fabrik nicht mehr in die Zeit passt?
VON PHILIPP PETERS
Staufens Don Quijote heißt Heinz Ladener und er hat seine Windmühle tatsächlich besiegt. Es hat nur zwei Jahrzehnte gedauert. Die Mühle kam in der modernen Gestalt einer Folienfabrik und stank. Dagegen hat Ladener sich gewehrt – mit Erfolg. „Es hat sich bewährt, dass wir hartnäckig geblieben sind“, sagt Ladener heute. Denn der Diplom-Physiker war kein Einzelkämpfer, sondern ist Vorsitzender des Vereins „Frische Luft für Staufen“, dem 380 Mitglieder angehören.
Alle mit dem einen Ziel: Die Fabrik darf mit ihrem Gestank nicht den Alltag in Staufen prägen. Dieser Kampf gegen die Industrie scheint jetzt gewonnen: „Sie riecht weniger“, sagt Heinz Ladener zufrieden. Was bleibt, ist die Frage: Gehören die Fabriken des 21. Jahrhunderts überhaupt noch ins Zentrum der Gemeinden? Viele Kommunen Südbadens werden von der Fabrik geprägt, um die herum sie gewachsen sind. Hornberg hat Duravit, Oberkirchs Puls schlägt bei PWO und die Rhodia in Freiburg war mal so dominant, dass sie sogar eigenes Wetter machen konnte:
Wenn im Winter die Schlote so richtig qualmten, dann rieselte der gefrorene Wasserdampf in Freiburgs Norden weiß zu Boden. Das war der „Rhodia-Schnee“. Aber kaum ein Beispiel ist so konfliktbeladen wie Staufen und die heutige Liveo, die in den vergangenen Jahren mehrfach erst den Eigentümer und dann den Namen wechselte. Sie hieß Ineos, dann Bilcare und seit Februar 2020 hat sie diesen Namen, der ein wenig an ein Pflanzenöl erinnert.
Gibt man den Namen der tatsächlichen Salatöl-Marke „Livio“ bei Google ein, so erscheint per Komplettierung als dritter Vorschlag „Bötzingen“, wo der zweite südbadische Standort von Liveo ist. Bötzingen wird aber mehr von seinem Autozulieferer SMP geprägt, der ehemaligen Peguform, und kann sehr gut beschreiben, wie das ist, wenn eine kleine Gemeinde am Tropf eines Industrieunternehmens hängt.
Vorteil Industrie?
Bei Konflikten ist die Lokalpolitik dann eher darum bemüht, den Vermittler zu geben. Schlägt man sich auf die eine oder andere Seite, wird es nur komplizierter. Denn mit dem das Gemeindeleben prägenden Industriellen sollte man es sich nicht verscherzen. Am Hochrhein kann der Bürgermeister von Wehr ein Lied davon singen, wie seine Kommune seit Jahren im Schwitzkasten von Brennet-Boss Stephan Denk liegt.
Will man also das Rathaus und die Industrie überzeugen, muss man einen langen Atem haben. Das hat auch Heinz Ladener gelernt. Staufens Bürgermeister Michael Benitz muss ja nicht nur auf die Interessen von Anwohnern hören, sondern auch für die Leute sprechen, die der Fabrik ihre berufliche Existenz verdanken. Und natürlich liegt ihm auch an der Gewerbesteuer.
In Staufen war es dann auch so, dass der entscheidende Ruck von der beim Landkreis Breisgau- Hochschwarzwald angesiedelten Gewerbeaufsicht kam. Die hat die Aktivisten um Heinz Ladener bestätigt und die Fabrik in die Pflicht genommen. 2017 ging dann eine neue Plasma-Anlage in Betrieb, die für bessere Luft sorgt. Heute pflegen Fabrik und Bürgerverein einen offenen und kooperativen Dialog.
Erst vor wenigen Wochen hat Ladener eine Einladung zum Gespräch direkt von Werksleiter Dirk Schumacher erhalten. Sobald sich die Corona-Situation beruhigt, will man sich wieder persönlich austauschen.
Heute ist es schwer vorstellbar, dass man ein neues Viertel rund um einen dominanten Industriebau hochzieht
Bei PWO in Oberkirch, die Fabrik liegt im Stadtteil Stadelhofen, macht man sich gerade eher Sorgen, dass die Fabrik nach und nach an Relevanz verliert. Der neue Vorstandschef Carlo Lazzarini will noch mal 150 Stellen streichen. Schon sein Vorgänger Volker Simon und der ehemalige Finanzchef Bernd Bartmann betonten immer wieder, wie teuer die Produktion am Standort Deutschland doch geworden sei. Zu teuer, sagen sie.
Duravits neuer Chef Stephan Tahy spricht zwar davon, dass man neue Produktionskapazitäten brauche. Ob diese in Deutschland entstehen, ist aber fraglich. Duravit ist bereits global aufgestellt. Die Firma beschäftigt 1000 Menschen in der Region. Daneben gibt es aber auch Fabriken in China, Indien und Nordafrika. Dort dürfte mehr Platz sein als im engen Gutachtal. Dass Fabriken im Zentrum liegen, ist nicht historisch bedingt, sondern organisch gewachsen.
„Früher lagen die Fabriken am äußeren Stadtrand“, sagt der Gutacher Architekt und Stadtplaner Klaus Wehrle, Kolumnist dieses Magazins. „Dann sind die Dörfer und Städte um die Fabriken gewachsen.“ In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Siedlungs- und Verkehrsfläche in Deutschland mehr als verdoppelt. Allein in den vergangenen 30 Jahren wuchs sie laut Statistischem Bundesamt um 28 Prozent auf 52.000 Quadratkilometer.
Zuletzt wurde der Flächenverbrauch aber gebremst, weil effizienter und nachhaltiger gebaut werden muss. Nachverdichtung und Revitalisierung sind die Schlagworte dazu. Der Kehler Architekt und Projektentwickler Jürgen Grossmann weiß, dass es kompliziert werden kann, wenn man aus der Industriebrache ein Wohngebiet machen will. Grossmann hat im Kehler Ortsteil Bodersweier eine Siedlung für rund 200 Menschen auf dem Gelände des ehemaligen Sägewerks Ostertag entstehen lassen.
Es geht auch ohne die Fabrik
Gutachten zu Industrie-Altlasten, zum Naturschutz und zu Geräuschemissionen gehören dabei zum Pflichtprogramm. Die Kür sind dann neben dem guten Draht zu den Anwohnern vor allem lokale Besonderheiten – in Kehl war es das Wasser im Boden. Weil die Stadt nah am Rhein liegt, ist der Grundwasserspiegel sehr hoch. Wenn eine Fabrik im Ort stirbt, ist das nicht automatisch der Tod des Viertels.
Umgekehrt ist es aber auch schwer vorstellbar, dass man ein neues Viertel rund um einen dominanten Industriebau hochzieht. „Im Mittelpunkt der Stadtentwicklung stehen heute nicht mehr einzelne spektakuläre Gebäude. Vielmehr geht es um das gesellschaftliche Miteinander und Teilhabe“, sagt Wolfgang Wende von der TU Dresden.
Der Professor für Siedlungsentwicklung forscht daran, wie Städte sich in Zukunft entwickeln könnten. „Die Frage, wie sich Städte einerseits an die Folgen des Klimawandels anpassen und anderseits im Sinne des Klimaschutzes nachhaltiger und sozial ausgewogener entwickeln können, steht dabei über allem“, so Wende. Industrie stört da eher. Was das mit einer kleinen Kommune macht, wenn ihr industrielles Herz leiser schlägt, ist kaum erforscht. Denn Stadtforschung ist vor allem für die Großen.
Deutsche Forscher tun sich leichter, neue Siedlungskonzepte in Sao Paulo zu beschreiben. Das Ende der Bacardi-Fabrik in Buxtehude – die Abfüllung dort wurde 2018 gestoppt – fasziniert die Wissenschaft nicht. „Die Kleinstadtforschung ist bislang vor allem durch Einzelfallstudien geprägt, insbesondere im Kontext von Untersuchungen ländlicher Räume, der Regionalentwicklung und der Daseinsvorsorge“, sagt Annett Steinführer, Forscherin an der Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover.
Sie kritisiert, dass die Kleinstadt in der Theorie oft über Klischees beschrieben wird. Als ländlicher Raum, als heimatliches Idyll oder weil dort die Wohnungen knapp sind. Die Kleinstadt werde dann schnell zum homogenen Gebilde erklärt, das in sich gewachsen und kaum zu ändern ist. Doch das, so Steinführer, sei falsch. Was ist, ändert sich. Die Kleinstadt solle vielmehr „als realer Sozialraum, als eine Form lokaler Vergesellschaftung“ gesehen werden. Immer in Bewegung.