Von Schwätzbänkle bis Quartiersmanagerin: In vielen kleinen Gemeinden müssen Einkauf und Versorgung von öffentlichen Projekten unterstützt werden. Dabei ist beachtliche Kreativität im Spiel.
VON MAXIMILIAN HESS
In kaum einem Bereich ist der Unterschied zwischen Land- und Stadleben so frappierend wie bei den Einkaufsmöglichkeiten. Wo der Städter meist auf mehrere Supermärkte und Einzelhändler in Laufweite zugreifen kann, sind die Strecken auf dem Land naturgemäß länger. Wer im Schwarzwald etwas abgelegen lebt, für den kann der Weg zum Bäcker am Sonntagmorgen gut und gerne fünf Kilometer oder mehr lang sein. Das stellt manche vor fast existenzielle Probleme, wie nicht zuletzt die Pandemie wieder zeigt.
Wer in der Gemeinde Freiamt im Landkreis Emmendingen lebt und einkaufen gehen möchte, braucht faktisch ein Auto. Freiamt ist mit 52,9 Quadratkilometern eine der flächenmäßig größten in ganz Baden-Württemberg, dabei hat sie nur knapp 4.300 Einwohner. Abseits der Dorfzentren Ottoschwanden, Reichenbach und Keppenbach ist Freiamt so dünn besiedelt wie kaum eine andere Gemeinde in Südbaden. Gerade im Winter sind Teile von Freiamt selbst für Autofahrer oft nur schwer zugänglich. Kurzum: Freiämter sind die Abgelegenheit gewöhnt.
In genau dieser Gewöhnung liegt die Stärke der Gemeinde bei der Frage nach der Versorgungslage der Bürger:
„Unsere Dorfgemeinschaft funktioniert“, , „diejenigen, die nicht mobil sind, kriegen ihre Einkäufe oft mitgebracht.”
Hannelore Reinbold-Mench, Bürgermeisterin von Freiamt
Solidargemeinschaften wie diese, in denen Nachbarn und Verwandte oft auch über große Distanzen anderen bei der Versorgung helfen, haben zwei Feinde: Den Demografischen Wandel und die Pandemie.
Denn die Frage nach Nahversorgung ist am Ende eine soziale Frage: Primär betrifft das Problem alte Menschen, die nicht mehr so mobil sind, und ärmere Menschen, die sich kein Auto leisten können. Dabei geht es nicht darum, dass die Alternativen zum Auto zu teuer sind, im Gegenteil: Freiamt bietet einen speziellen, reduzierten Bustarif für Strecken innerhalb des Ortes an. Es geht darum, dass das Nahverkehrsnetz nicht so ausgebaut ist, dass es das Problem lösen würde. Wer schon mal probiert hat, mit dem ÖPNV an entlegene Orte in Südbaden zu kommen, kennt das.
„Wir gehen davon aus, dass dieses Problem in Zukunft größer werden wird“, sagt Bürgermeisterin Reinbold-Mench. Freiamt wird immer älter, lediglich der Zuzug verhindert eine rapide Überalterung der Gemeinde. Das hat Folgen für die anfangs angesprochene Dorfgemeinschaft, die das informelle Rückgrat der Nahversorgung in Freiamt ist. Die Verwaltung hat reagiert und mit Nadine Schöpflin eine Quartiersmanagerin eingestellt. Sie betreut unter anderem die offene Beratungssprechstunde „Älter werden in Freiamt“, ein Projekt, das sich genau dieser Frage widmet.
Freiamt steht exemplarisch für ein Problem, das es in Südbaden und ganz Deutschland gibt: Gemeinden in dünn besiedelten Gebieten überaltern, lokale Einzelhändler müssen schließen und die Alternativen sind oft weit entfernt und beschwerlich zu erreichen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hat Anfang des Jahres das Modellvorhaben „LandVersorgt – Neue Wege der Nahversorgung in ländlichen Räumen” gestartet. Im Rahmen des Vorhabens werden 15 Modellprojekte in der Nahversorgung finanziert. Die Ideen sind vielfältig: Es gibt Abholstationen, Online-Shops lokaler Anbieter, viele versprechen Bürgerbeteiligung und digitale Bedarfsanalysen. In Freiamt gab es 2011 auch mal ein solches Projekt, gefördert von der EU. Damals gab es einen Bringdienst für Lebensmittel im Ort. Die Nutzung war schwächer als erwartet, das Projekt wurde eingestellt.
Der Dorfladen dient der Nahversorung und ist ein sozialer Treffpunkt
Egal ob Bundesministerium oder Kommunalverwaltung: Nahversorgung, so scheint es, funktioniert nur noch über Förderung. Auch in Freiamt setzt man alles daran, die verbliebenen Anbieter zu halten. Man weiß, was man an den Bäckern, Metzgern und Einzelhändlern hat. Für die ist das Geschäft auf dem Land meist nur profitabel, wenn die anfallenden Kosten geringgehalten werden können, sei es durch den Besitz der Verkaufsräume, durch die Mitarbeit von Familienmitgliedern oder durch gering gehaltene Betriebskosten. Gerade Bäcker und Metzger profitieren von solchen, über Generationen gewachsenen Strukturen. Bei Dorfläden, Tante-Emma-Läden oder Supermärkten sieht es da anders aus.
Dass sich nicht nur Politiker Gedanken um die Zukunft der Nahversorgung machen, zeigt das Beispiel des Lebensmittelgroßhändlers Okle aus Singen. Das bereits 1934 gegründete Unternehmen ist seit jeher bemüht, Wege kurz zu halten, sowohl für Zulieferer als auch für Konsumenten. Mithilfe von verschiedenen Vertriebskonzepten hat Okle allein im Schwarzwald über 20 Landmärkte mit aufgebaut. Das Angebot ist begrenzt, funktioniert modular und teils standardisiert und die Lieferwege bleiben (für einen Großhändler) kurz. Effizienter Vertrieb, an den Bedarf angepasste Angebote und lokale Verankerung: Okle zeigt, dass es auch für Unternehmen jenseits des familiären Kleinstunternehmens wirtschaftlich Sinn machen kann, auf dem Land Läden aufzubauen.
Doch die großflächigen Versorgungsprobleme lösen auch die über 20 Landmärkte nicht. Und die Zukunft? Okle hat kürzlich einen ersten Lebensmittel-Automaten aufgestellt. Bei diesem kann rund um die Uhr eingekauft werden. Für Geschäftsführer Hans-Philipp Okle eine durchaus lohnende Innovation:
„Mancherorts haben sich diese rund um die Uhr geöffneten, stummen Tante-Emma-Läden sogar zu solchen Umsatzbringern entwickelt, dass die jeweiligen Betreiber mit dem Auffüllen der Vorräte kaum nachkommen.“
Hans-Philipp Okle, Gschäftsführer Landmärkte Okle
Und tatsächlich haben Automaten Vorteile, die gerade an abgelegenen Orten sehr ins Gewicht fallen. Sie brauchen kein Personal, können auch abseits von Geschäften stehen und sind rund um die Uhr zugänglich.
Zurück in Freiamt: Quartiersmanagerin Nadine Schöpflin hat ihre Beratungsstunde wegen der Pandemie bis auf weiteres abgesagt. Sie sei zwar noch mobil erreichbar, Präsenztreffen fänden aber nicht mehr statt. Das ist zwar sinnvoll mit Blick auf die aktuellen Inzidenzen, entlarvt aber ein weiteres, gravierendes Problem, das mit der Nahversorgung zusammenhängt.
„Wir haben ein Problem mit Vereinsamung – und beim Einkaufen trifft man sich”.
Hannelore Reinbold-Mench, Bürgermeisterin von Freiamt
Das ist einer der Hauptgründe, wieso weder Lieferdienste noch Automaten den Einkauf für viele, gerade ältere Menschen ersetzen können. Auch hier reagieren Kommunen: In Murg am Hochrhein beispielsweise hat die Ortsverwaltung Anfang des Jahres ein „Schwätzbänkle“ aufgebaut – eine Bank, die ausdrücklich als Treffpunkt für all jene dienen soll, die Kontakt suchen. Doch bei so etwas fällt den wirklich dünn besiedelten Gemeinden wie Freiamt ihre eigene Natur auf die Füße, denn wer kann und will schon für ein kleines Schwätzchen sieben Kilometer über den Berg laufen, gerade im Winter?
In der Pandemie bietet der Ortsverein des Roten Kreuzes in Freiamt wieder einen Lieferservice für Lebensmittel. Dieses Mal wird er, gezwungenermaßen, besser angenommen als 2011. Man rafft sich zusammen. Noch funktioniert die solidarische Dorfgemeinschaft. Beantwortet ist die Frage, wie man all den nicht mobilen Menschen an abgelegenen Wohnorten in der Zukunft weiterhin den Zugang zu einer Versorgungsinfrastruktur erhalten möchte damit allerdings nicht – weder in Freiamt, noch in ganz Deutschland.