Fehlerkultur in der Wissenschaft unterscheidet sich erheblich zwischen den Disziplinen. In diskursiven Fächern, wie der Literatur- oder Politikwissenschaft, gibt es nicht die eine Wahrheit. In den Naturwissenschaften aber schon – wobei hier die „falschen“ Annahmen in der empirischen Forschung angelegt und als Trial-and-Error-Methode Teil des Prozesses hin zu belastbarem Wissen sind.
VON CARSTEN DORMANN
Es gibt zwei Arten von Fehlern in der Wissenschaft: Solche, die nach unserem gegenwärtigen Wissen unvermeidlich sind, und solche, die auch heute schon vermeidbar wären und eher handwerklichen Mängeln entspringen. Die wissenschaftliche Methodik (das sogenannte hypotheto-deductive System), mit dem seit dem 17. Jahrhundert zunächst die Natur- und zunehmend auch die Sozial- und Geisteswissenschaften operieren, stellt einen sich ständig verändernden Erkenntnisfluss dar, keinen gradlinigen Kanal.
Theorien werden aufgestellt und ihre abgeleiteten Hypothesen getestet und verworfen (oder auch nicht), und was zunächst plausibel und richtig klingt, mag mit der Zeit verändert oder gar als falsch zurückgewiesen werden. Prominente Beispiele sind das geozentrische Weltbild, der Aderlass oder die Vorstellung, das Hirn diene der Kühlung des Blutes. Diese Fehler sind – mit Abstand betrachtet – verzeihbar, da Versuch und Irrtum grundsätzlicher Teil der wissenschaftlichen Erkenntnisfindung sind.
“Die Vorläufigkeit wissenschaftlichen Wissens ist für Außenstehende schwer zu verstehen.”
Leider haben wir nicht immer diesen Abstand. Oft wollen wir auf der Stelle die richtige Antwort haben, selbst wenn es unmöglich ist, sie zu geben. Die Vorläufigkeit wissenschaftlichen Wissens ist für Außenstehende schwer zu verstehen. Viele Menschen glauben, dass wissenschaftliche Erkenntnisse „gesichert“ sind, also klare und auf Ewigkeit richtige Antworten auf Fragen geben können. Andere denken, dass wissenschaftliches Wissen beliebig und eher Zeitgeist als Erkenntnis ist. Beides ist falsch. Ich vergleiche das gerne mit den Zwischenstufen von „Wer wird Millionär?“, bei denen man sicher sein kann: Bis hierhin ist alles auf jeden Fall korrekt. So etwas gibt es bei wissenschaftlicher Erkenntnis nicht. Andererseits ist es Unsinn zu meinen, dass auch fundamentale Erkenntnisse im Handumdrehen ins Gegenteil kippen könnten. Nein, auch der asymmetrische Zerfall eines subatomaren Teilchens wird nicht verändern, dass wir uns auf die Nase legen, wenn wir stolpern.
Interessanter – und viel relevanter – sind Fehler aus Unkenntnis, Dummheit, Arroganz, Eile, mangelnder Sorgfalt, kurzum: handwerkliche Fehler. Es wird sich nicht vermeiden lassen, dass so etwas passiert. Das können Tippfehler sein oder auch inhaltliche Missverständnisse. Solange sie korrigiert werden, sind sie Teil der sich ständig verbessernden Wissenschaft. Wenn die Datengrundlage wächst (Big Data), die Komplexität der Analyse zunimmt (künstliche Intelligenz) und der Abstand zwischen Forschungsfront und Master-Abschluss kontinuierlich zu wachsen scheint, dann sind handwerkliche Fehler in erheblichem Maße unvermeidlich. Aber ob ein Fehler einer wissenschaftlichen Aussage zugrunde liegt oder nicht, sehen wir häufig erst nachher.
Entscheidungsträger und -trägerinnen in Politik und Wirtschaft müssen lernen mit dieser Fehlermöglichkeit umzugehen. Wenn schnell Entscheidungsunterstützung gefordert ist, zum Beispiel bei Epidemien oder Klimawandelauswirkungen, bei möglichen Gefahren durch künstliche Intelligenz oder Grundwasserbelastung durch Antibiotika, dann steigt die Wahrscheinlichkeit handwerklicher Fehler wahrscheinlich stark an: Dann werden niedrigere Stichprobenumfänge, vorläufigere Ergebnisse oder minderwertigere Methoden akzeptiert.
“Wenn schnell Entscheidungsunterstützung gefordert ist, zum Beispiel bei Epidemien oder Klimawandelauswirkungen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit handwerkklicher Fehler stark an.”
Der Medizinstatistiker John Ioannidis gilt als großer Kritiker halbgarer Forschung. 2005 rechnete er seinen Kollegen vor, dass die Fehlerrate bei medizinischen Veröffentlichungen bei über 50 Prozent liegt. Das ist sogar leider eher optimistisch. Als Grund für diese Fehlerrate listet er unter anderem gesellschaftlichen und finanziellen Druck auf, ebenso wie machtpolitischen Einmischungswillen. Damals war ein Problem allerdings noch nicht so ausgeprägt wie heute: das Zusammenbrechen des Qualitätssicherungsprozesses. Mit dem nachvollziehbaren Wunsch, öffentlich geförderte Forschung auch frei zugänglich zu machen (dem sogenannten open access) explodiert die Anzahl minderwertiger Zeitschriften, bezahlt durch die Institutionen der Autoren und Autorinnen, in denen sich gute und schlechte Beiträge munter mischen. Nur wenige, vor allem durch Fachgesellschaften herausgegebene Zeitschriften, besitzen noch die finanzielle Unabhängigkeit, vor allem auf Qualität zu achten. Leider gibt es dazu keine belastbaren Zahlen: Was „gute Forschung“ ist, liegt auch im Auge der Betrachterin.
Der Bedarf an wissenschaftlichen Aussagen wächst, vor allem weil politische Entscheidungsträger normative Entscheidungen in unlauterer Weise auf zumeist wertfreie Wissenschaft abwälzen. Natürlich können Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ein Gutachten zur Atommüllendlagerung oder zur Dekarbonisierung der Automobilindustrie schreiben. Aber die finale Entscheidung obliegt nicht ihnen, sondern ist eine politische. In gewissem Sinn finden die als ausufernd kritisierten Beraterverträge der Regierungen ihre Parallele in immer mehr „schnelle Antwort“-Projekten in der Wissenschaft – und diese sind ein Garant für eine Zunahme an handwerklichen Fehlern.
Fazit: Fehler macht die Wissenschaft genau wie jeder andere Zweig menschlicher Aktivität – Politik, Sport, Wirtschaft, Kunst. Problematisch wird es dann, wenn sich Entscheidungsträger dieses Fehlerpotentials nicht bewusst sind, und wenn Wissenschaftler bereit sind, ihrer Qualitätsanspruch zugunsten schneller Aussagen zu senken.
Unser Gastautor Carsten Dormann ist seit 2011 Professor für Biometrie und Umweltsystemanalyse an der Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen an der Universität Freiburg. Der Biologe hat in Kiel studiert, in Schottland promoviert und in Göttingen habilitiert.