Immer mehr junge Menschen machen Abitur und wollen studieren. Wer verkabelt also künftig Gebäude oder backt Fleischkäse? Recruiting im Handwerk kennt besondere Herausforderungen und braucht neue Herangehensweisen.
VON KATHRIN ERMERT
Bei den Realschulen in Müllheim, Neuenburg und Kandern sowie bei der Gemeinschaftschule in Schliengen fährt demnächst ein Kleinbus vor, lädt jeweils rund ein Dutzend Schüler ein und bringt sie in den idyllischen Schliengener Ortsteil Obereggenen. Nicht hoch bis zum Schloss Bürgeln, sondern zur Firma Bieg Elektrotechnik. Die sucht nämlich noch Auszubildende und will die jungen Leute so auf sich aufmerksam machen. Weil die Pandemie Aktionstage in den Schulen verhindert hatte, holt man sie eben in den Betrieb.
Das Projekt ist Chefsache bei Bieg. Geschäftsführer Gerhard Weber (52) weiß, wie wichtig Azubis sind und überhaupt die ganze Belegschaft. Er hat hier gelernt und ist selbst das beste Beispiel dafür, dass Karriere im Handwerk funktionieren kann. Als 16-Jähriger startete er 1986 mit einer Ausbildung zum Elektroinstallateur, bildete sich stetig weiter bis zum Meister, wurde 2009 Prokurist, 2012 Mitgeschäftsführer und ist seit einem Jahr alleiniger Geschäftsführer.
Benefits und Mitarbeitergespräche
Seniorchef Hermann Bieg hat ihn stets gefördert. Nun kümmert sich Weber als Chef um die gut 55 Mitarbeiter. Er hat hohe Ansprüche an sich selbst, den Betrieb und die Belegschaft sowie ans Handwerk insgesamt. Als Fußballfan spricht er vom Training und dem Aufstieg in die Bundesliga. Bieg hat viele Kunden in der Industrie. Auf der Referenzliste stehen bekannte Namen von Auma bis Vitra. An deren Maßstäben misst Weber auch seinen Betrieb: Mit seinen Ansprüchen an Organisation, Sicherheit und Sauberkeit kämpft er gegen gängige Vorurteile. Zugleich ist ihm wichtig, dass die Mitarbeiter sich wohl fühlen. Als Arbeitgeber will er die Vorteile aus Industrie und Handwerk vereinen.
“Die Arbeit wird nur gut, wenn man Lust darauf hat.”
GErharD Weber, GEschäftsführer Bieg Elektrotechnik
Es gibt bei Bieg zahlreiche für einen Handwerksbetrieb nicht gerade übliche Benefits für die Belegschaft. Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Bildungsreisen, Firmenhandy und -kleidung, Versicherungszuschüsse oder eine Einkaufskarte. Und der Chef macht sich viele Gedanken über gute Führung und die Zukunft des Betriebs. Er lässt deshalb sein Führungspersonal, das ganze Team und sich selbst schulen und hat vor einigen Jahren regelmäßige Mitarbeitergespräche eingeführt. Weber will wichtige Dinge nicht unterm Türrahmen besprechen, sondern zeigen, dass er sich für jeden einzelnen interessiert, und den Themen Zeit geben. Er weiß: „Das Ergebnis wird nur gut, wenn man Lust und Spaß an der Arbeit hat.“
Webers Ziel ist es, viel zu bieten, um als Arbeitgeber zur Marke, zum Place-to-be zu werden. Das ist auch ein Grund für den zweiten Bieg-Standort im Gewerbepark Breisgau, den es seit knapp einem Jahr gibt. Die Strategie geht auf. Die Fluktuation ist sehr gering, viele Mitarbeiter sind schon etliche Jahre dabei, so gut wie alle kommen nach der Meister- oder Technikerschule zurück in den Betrieb. Azubis werben ihre Freunde an, Kunden und Partner schicken ihre Söhne zur Ausbildung bei Bieg. „Ein schönes Zeichen“, findet Weber.
Weniger Fachkräfte, mehr Aufgaben
Bieg ist kürzlich zum Handwerksunternehmen des Jahres im Landkreis Lörrach gekürt worden. „Fachkräftesicherung ist ein dringendes Problem für viele Betriebe“, sagt Johannes Ullrich, Präsident der Handwerkskammer Freiburg. In nahezu allen Bereichen des Handwerks fehlen Fachkräfte, während gleichzeitig die gesellschaftlich relevanten Aufgaben der Handwerksunternehmen wachsen – Stichwort: Energiewende. Das Handwerk habe seine Anstrengungen deutlich verstärkt, sagt Ullrich. Ein Umdenken müsse aber in der gesamten Gesellschaft stattfinden.
Ullrich kritisiert die „Fokussierung auf die akademische Bildung“. Der Nachwuchs höre weder in der Schule noch daheim, dass man auch mit einer beruflichen Ausbildung Karriere machen kann. Dabei ist die Ausbildung der wichtigste Faktor der Fachkräftegewinnung im Handwerk. In den vergangenen Jahren hatten noch Zugewanderte und Geflüchtete die Azubizahl in der Region konstant gehalten. Angesichts des Rückgangs bei den Geflüchteten wirbt Ullrich dafür, stärker moderne Rekrutierungskanäle zu nutzen.
Am richtigen Ort suchen
„Viele Betriebe sind nicht mit der Zeit gegangen“, sagt Timo Wiedemann. „Sie suchen schlichtweg an den falschen Orten nach Bewerbern.“. Der 37-Jährige ist wie sein Mitgründer Max Schneckenburger (29) Inhaber einer Onlinemarketingagentur und hat dadurch ständig Kontakt zu Handwerksbetrieben in der Region. Weil viele von ihnen dasselbe Problem haben, entwickelten die Freiburger Marketingprofis vor drei Jahren ein digitales Recruiting Tool speziell fürs Handwerk und gründeten das gemeinsame Unternehmen Magnet360. Der Name soll Programm sein, es soll wie ein Magnet die Fachkräfte anziehen.
Die Idee kehrt das Bewerbungsverfahren um: Betriebe warten nicht darauf, dass sich Bewerber bei ihnen melden, sondern bewerben sich ihrerseits bei den Arbeitnehmern. Über Social-Media-Kanäle oder Google wecken sie das Interesse potenzieller Mitarbeiter, holen sie auf ihre Website oder lassen sie ein spielerisches Bewerbungsquiz lösen. „Das ist eine deutlich niedrigere Barriere als ein ödes Bewerbungsformular“, sagt Wiedemann. Anscheinend funktioniert’s: Die Referenzbetriebe auf der magnet360-Website berichten von zahlreichen qualifizierten Bewerbungen innerhalb kurzer Zeit, aus denen sie sich ihre Wunschkandidaten aussuchen konnten.
Über den Tellerrand schauen
Die Metzgerei Lederer in Weil am Rhein braucht dieses Tool einstweilen nicht. Denn sie hat ein Luxusproblem, erzählt ihr Inhaber Joachim Lederer (61), den alle einfach Jogi nennen: Sie muss arbeitssuchende Metzger manchmal ablehnen. Etwa 30 Mitarbeiter beschäftigt der vor der 30 Jahren gegründete Betrieb. Fast alle hat Lederer selbst ausgebildet oder angelernt. Ein buntes Team aus zehn verschiedenen Herkunftsländern.
Anders sieht es mittlerweile allerdings beim Nachwuchs aus. Jogi Lederer hat sich jahrelang um jene gekümmert, die es nicht so leicht haben. Er hat viele Jugendliche aufgepäppelt und ausgebildet, die sonst nirgendwo untergekommen sind. Bei ihm blühten sie auf, fanden Spaß an der Arbeit und brachten deshalb gute Leistungen. Doch nun gebe es immer weniger Kandidaten, berichtet Lederer. Nicht einmal mit Förderschülern könne die Metzgerei noch ihre Ausbildungsplätze besetzen.
„ Wenn ich etwas verändern will, muss ich es selbst tun“
Jogi Lederer, Metzgerei Lederer, Weil am Rhein
Deshalb schaut Lederer, der seit mehr als zwanzig Jahren Obermeister der Lörracher Metzgerinnung und mittlerweile auch oberster Metzger im Land ist, über den Tellerrand. Vor zehn Jahren hatte er die Zusammenarbeit seiner Innung mit der norditalienischen Stadt Padua initiiert und Dutzende Azubis von dort in den Landkreis Lörrach geholt. Unter anderen seinen designierten Nachfolger. Francesco Mingardo kam als Praktikant, blieb für die Ausbildung und startet demnächst die Meisterschule. In zehn Jahren, so der Plan, übernimmt er die Metzgerei komplett. Schon nach wenigen Wochen hatte Lederer erkannt, dass der junge Italiener die soziale Kompetenz und das Potenzial für den Chefposten hat.
Azubis aus Indien
Das Padua-Projekt endete mit der Flüchtlingswelle und weil Italien mittlerweile selbst Arbeitskräfte sucht. Deshalb rekrutiert Lederer nun in Indien, wo es eine Million arbeitssuchende junge Menschen gibt. Eine indische Agentur hatte der Handwerkskammer Freiburg ihre Vermittlung angeboten, und die wusste: Jogi Lederer ist der richtige für das Projekt. Der redet nicht lang, er macht’s einfach. „Wenn ich etwas verändern will, muss ich es selbst tun“, sagt der innovative Metzgermeister. Anfangs wurde er belächelt, mittlerweile heißt es: Du hast zur rechten Zeit den richtigen Schritt gemacht.
Die Agentur sucht die Bewerber gezielt nach Eignung aus und kümmert sich um alles Formelle. Sie rekrutiert vor allem im Süden Indiens, wo es viele Katholiken gibt, die keine Probleme mit Rind- oder Schweinefleisch haben. 30 junge Inder lernen seit gut einem halben Jahr an einem College in Indien Deutsch. Sie müssen das Niveau B1 haben. Wer die Prüfung besteht, darf im Herbst im Landkreis Lörrach seine Ausbildung beginnen. Die Motivation ist hoch, denn die Kosten für das College zahlen die Inder zunächst selbst und bekommen erst, wenn sie hier sind, von ihren Ausbildungsbetrieben einen Teil erstattet.
Jetzt, da die ersten Inder bald kommen, weckt das Projekt allerorts Neugier und Begehrlichkeiten. Andere Innungen der Handwerkskammer melden Interesse an, ebenso der Landkreis, der sich indische Azubis auch in Pflegeheimen und Krankenhäusern vorstellen kann. Lederer will in den kommenden fünf Jahren 150 bis 200 junge Inder in den Freiburger Kammerbezirk holen und ausbilden. In vier Jahren soll der erste auf der Meisterschule sein. Lederer ist Marathonläufer – in der Regel erreicht er seine Ziele.