In den vergangenen anderthalb Jahren haben wir erlebt, wie anstrengend Streiten sein kann. Und dass es einfacher ist, sich vom Gegenüber abzuwenden.
VON UDO MÖBES
Aber eigentlich waren wir auch schon vor Corona nicht besonders gut im Streiten, oder? Die meisten von uns sind so sozialisiert, dass Konformität für uns einen hohen Stellenwert hat. Wer will schon die bockige Kuh sein, die immer quer im Stall steht? Dabei wünschen sich viele Chefs in Unternehmen, dass Mitarbeiter ihre Meinung sagen und Themen ausdiskutiert werden sollen. Aber entspricht das wirklich schon dem Arbeitsalltag?
200 Jahre Prägung
Eine Gesellschaft braucht Ordnung. Und ein Staat hat übergeordnete Interessen. Wenn es anno dazumal Krieg gab, konnte man Soldaten einziehen. Und man konnte sich sicher sein, dass fast alle kamen, um den Staat gegen Feinde zu verteidigen.
Im Militär gaben die Schulterklappen Orientierung, wer wem was zu sagen hat. Gehorsam war oberste Pflicht. Im Zuge der Industrialisierung wurde das militärische System eins zu eins auf die Wirtschaft übertragen. Hierarchie und strikte Arbeitsteilung stellten sicher, dass die Fabriken funktionierten.
Das vorherrschende Prinzip dieser Hierarchie war: Oben wird gedacht, unten gemacht. Das Prinzip hat in den vergangenen 200 Jahren für viel Ordnung im gesellschaftlichen Miteinander gesorgt. Bemerkenswert ist, dass Hierarchien und Gehorsam in vielen Unternehmen und Betrieben noch heute weiterleben, obwohl wir nicht mehr an Maschinen stehen.
Bremse: Status
Der Chef hat immer Recht! Und es gibt sie immer noch, die Vorgesetzten, denen ein Zacken aus der Krone bricht, wenn das mal nicht so ist. In so einem Umfeld sind Diskussionen meist schnell beendet. Und Mitarbeiter, die diese Erfahrung in Diskussionen machen, benötigen nicht viele Durchgänge um zu verstehen, in welche Richtung der Hase zu laufen hat.
Aber manchmal ist es auch so, dass Mitarbeiter solche Erfahrungen in einem vorherigen Unternehmen gemacht haben und das auf ihr neues Umfeld übertragen. Das heißt: Es liegt am alten Chef. Dem neuen Vorgesetzten kann man nur empfehlen, diese Kollegen aktiv zum Diskutieren einzuladen, damit sie erleben, dass es nun anders ist.
Die Metaebene
Wenn wir mit einem Gegenüber diskutieren oder gar streiten, dann gibt es immer zwei verschiedene Ebenen. Die Sachebene, also das Thema, um das es geht, und die emotionale Ebene, die Beziehungsebene. Dort beschäftigt uns: Wie nahe bin ich dem Gegenüber? Bin ich noch sein Freund? Mag er mich?
Die Kommunikationswissenschaft nennt das die Metaebene. Das Fatale ist, dass sich diese Ebene über die Sachebene legt. Das heißt, damit mich das Gegenüber mag, bin ich inhaltlich eigentlich zu jedem Kompromiss bereit. Was mein Gegenüber wirklich über mich denkt, ist dabei nicht relevant. Schließlich führt mein eigenes Kopfkino in solchen Situationen Regie.
Der Schlagabtausch
Manchmal tut es fast schon weh, seinem Gegenüber bei Ausführungen zuhören zu müssen, mit denen man so gar nicht einverstanden ist. Wir werden unruhig, bekommen einen hohen Puls und fallen ins Wort. Wenn wir eine Unterbrechung erreicht haben, füllen wir diese mit möglichst lückenlosen Ausführungen unserer Sichtweise.
Sobald sich dann nur ein kleiner Spalt ergibt, steigt das Gegenüber wieder dort ein, wo wir es unterbrochen haben. Dieses Hin und Her wird gern schneller und lauter, die verwendeten Worte immer schärfer oder gar ausfallend. Hat er denn nicht verstanden, was ich gesagt habe? Vermutlich nicht.
Habe ich denn verstanden, was er mir sagen wollte? Vermutlich auch nicht. So schaukeln sich solche Gespräche hoch – selbstverständlich ohne Ergebnis. Und man geht letztlich kopfschüttelnd und frustriert auseinander.
Eine kleine Zauberformel
Dabei ist es eigentlich einfach, aber wir machen es sooooo selten. Jeder Leser kann bei zukünftigen Diskussionen einfach mal versuchen folgende Phasen zu unterscheiden: 1. Verstehen und 2. Einverstanden sein. In der ersten Phase ist das Ziel, das Anliegen seines Gegenübers zu verstehen.
Was sind die Beweggründe und was ist die Perspektive auf das Thema? Dabei ist es hilfreich, das, was man verstanden hat, mit eigenen Worten zu wiederholen und damit abzusichern, ob man das Wesentliche erfasst hat. Es kann sein, dass das Gegenüber sehr verwundert ist, da es eigentlich mit einer Gegenrede rechnet. Die zweite Phase ist das „Einverstanden sein“.
Wenn eine Entscheidung wirklich nur in meinem Verantwortungsbereich liegt, kann ich darauf hinweisen, dass ich die Sichtweise des Gegenübers verstanden, selbst aber eine ganz andere Sicht habe und mich daher anders entscheide. Dafür ist es hilfreich, wenn man schon vorher klarstellt, wer die Entscheidung trifft. Unter diesen Rahmenbedingungen kann man sich auf die „gegnerische“ Position einlassen – ohne die Sorge, dass einem der eigene Standpunkt aus den Händen gleitet.
Und am Ende eine Entscheidung treffen, die der anderen Position auch widersprechen kann. Udo Möbes ist selbstständiger Berater, Trainer und Business- Coach und betreibt seit 2015 mit seiner Frau Ulrike Peter das Seminarhaus „Saiger Lounge“ im Schwarzwald. Er begleitet Change-Prozesse in Unternehmen und coacht Geschäftsführer-Teams oder einzelne Führungskräfte. Für das Digital-Unternehmen Virtual Identity mit 180 Mitarbeitern in Freiburg, München und Wien war er zuvor 16 Jahre lang an der Spitze tätig, davor arbeitete er 11 Jahre für die Haufe Mediengruppe.
Udo Möbes gibt an dieser Stelle regelmäßig seine Erfahrungen mit Coaching- Themen an unsere Leser weiter. www.moebes.de