Martin Horn löst mit einem deutlichen Sieg Dieter Salomon im Amt des Freiburger Oberbürgermeisters ab. Ein Wechsel als nicht zu vergleichender Marketing-Erfolg – und ein tiefer Einblick ins Freiburger Gemüt.
Von Rudi Raschke
“Ein junger Mann aus einer schwäbischen Stadt verbringt seinen unbezahlten Urlaub in Freiburg. Vier Monate später wird er dort zum Oberbürgermeister gewählt.“ Fängt so ein Märchen an? Ein gut erzählter Witz? Ein Hollywood-Stoff à la „Die Glücksritter“? Den Freiburgern hat dieses Thema so gut gefallen, dass sie am 6. Mai Martin Horn zum OB gemacht haben, mit mehr als 44 Prozent. Eine David-gegen-Goliath-Story, ein Underdog-Ding. Horn, gebürtiger Pfälzer, in Sindelfingen arbeitend, evangelisch/ evangelikal, parteilos, mit einem Freiburg- Bezug, der lediglich auf frühe Besuche bei der Oma und spätere bei der SPD gründet. Einer, der in die Stadt passt wie „Der Bär auf dem Försterball“ im launigen Kinderbuch von Peter Hacks, möchte man sagen.
Warum wurde er gewählt? Das lässt sich unmittelbar nach der Wahl entweder ganz einfach oder ganz kompliziert erklären, die einfache Variante: Martin Horn hat mit einem Wahlkampf der Nettigkeiten die Probleme der Stadt angesprochen und sich in rasantem Tempo bei sehr vielen Bürgern freundlich vorgestellt. Dazu hat er die sozialen Medien und das Internet optimal ausgenutzt. Er hat möglichst viele der – aus deren Sicht „Abgehängten“ – um sich geschart und hat neue Öffentlichkeiten in den Stadtteilen erschlossen. Lösungen musste er gar nicht so sehr anbieten, es war vor allem von klassischen Plakaten über die Events bis hin zu Instagram und animierten Gif-Bildchen ein Präsenzwahlkampf. Dementsprechend hat es der Amtsinhaber Dieter Salomon an diesen Fronten vergeigt. Was insofern bitter ist, als er eher eine Schlacht ums Marketing und um diffuse Gefühle statt um Inhalte verloren hat: Noch im Januar lag er neben dem damals unbekannten Horn und der Grüne-Alternative- Stadträtin Monika Stein nebst dreier Randkandidaten als Chef einer sich positiv entwickelnden Gemeinde in Führung. Oder sagen wir: Er war haushoher Favorit. Nur ist er im Startklotz hängen geblieben, als Horn schon unterwegs war. Als der bereits erste Runden im Web und auf Facebook gedreht hatte, war vom OB dort nichts zu sehen.
Während Horn vor den Kulissen sein „Gemeinsam“-Feeling in sanftem Ton entfaltete, meißelten sich seine Anhänger im Netz das Bild eines arroganten, bürgerfernen, letztlich sogar erfolglosen Dieter Salomon zum Denkmalsturz zurecht. Das alles hatte wenig mit belastbaren Fakten zu tun, es erreichte aber viele, auch politikferne Menschen. Am Ende wurde es die Grundmelodie dieses Wahlkampfes. Salomon hat nach dem verlorenen ersten Wahlgang noch spät versucht, eine Schubumkehr in die Gegenrichtung einzuleiten: Externe Agenturexperten wurden eingeschaltet, um den anzugbefreiten „Dieter“ zu zeigen, der zuvor noch Salomon hieß. Jetzt unter Menschen, wo er zuvor allein vom Schloßberg oder aus dunklem Plakat blickte. Was nun richtig war oder falsch, lässt sich im Nachhinein schwer analysieren. Fakt ist, dass der Oberbürgermeister sein Stimmenergebnis in absoluten Zahlen gerade halten konnte, während Horn den Vorsprung mit deutlichen Gewinnen ausbaute. Mit einem „Denkzettel“ im ersten Wahlgang hatte das nichts zu tun. Die Statements auf dem Rathausplatz nach diesem 22. April konnten unterschiedlicher nicht sein: Salomon rutschte raus, dass dann aber im „zweiten Wahlgang richtig gewählt“ werde, was zum Widerspruch an der Urne aufstachelte. Dass er nur eine halbe Stunde später bei seinem Wahlparty-Empfang einen weit demütigeren Ton anschlug und den vielen Menschen dankte, die ihn durch diese Monate getragen hätten, bekamen die Bürger nicht mehr mit.
Horn gab dagegen vor der Medienöffentlichkeit einmal mehr den nice guy, der in seiner „kleinen Küche“ seine Frau geküsst habe vor Freude. Am Entscheidungstag zwei Wochen später herrschte in der Stadt dann eine regelrechte „Rübe-runter“-Stimmung gegen den 16-Jahre-OB. Der kann sich jedoch zugute halten, dass er – von den genannten Wahlkampf-Schlenkern abgesehen – seinem Politikstil trotz allem bis zuletzt treu geblieben ist. Womit man bei der schwierigeren Erklärung wäre: Woher die Summe der Unzufriedenheiten in einer überwiegend zufriedenen Großstadt wie Freiburg rührt. Eine Wechselstimmung wurde mehr herbei geredet, als dass sie im Januar existiert hätte. Noch Ende März porträtierte die „Süddeutsche Zeitung“ auf einer ganzen Seite das „Musterexemplar“ (Titel) Salomon. Monika Stein wurden zwei Absätze zuteil, der jetzige Gewinner der Wahl wurde als „33-jähriger, parteiloser Kandidat aus Sindelfingen“ in sechs Zeilen erwähnt, nicht einmal mit Namen. Auch der Eindruck von außen vermittelte: Nichts zu befürchten für den OB. Der war gar nicht mal bequem oder bräsig im Wahlkampf, er machte das, was er kraft seines Amts immer machte: Er lud die Menschen in den Stadtteilen nicht auf Bürgerbiere ein wie sein jetziger Nachfolger, sondern besuchte die Neujahrsempfänge nahezu sämtlicher Bürgervereine. Traditionell eine andere Öffentlichkeit, als es die Quartierswirklichkeit hergibt. Salomon absolvierte Spatenstich um Spatenstich, ging zu Terminen zahlloser Institutionen, aber die Aufmerksamkeit für dieses Pflichtprogramm bestand nur in der immergleichen Leserschaft der „Badischen Zeitung“ und der rathauseigenen Medien.
Horn dagegen scharte online wie live immer mehr Gruppen um sich: Für junge Menschen bot er niedrigschwellige Sperrmüllsofa-Aufbauten auf dem Platz der alten Synagoge, bei Alt-Vereinen wie „Freiburg Lebenswert“ (der politische Arm im Gemeinderat distanzierte sich später von einer Unterstützung), der FDP und der Kulturliste sammelte er Stimmen ein, die sich um des bloßen Wechsels für ihn aussprachen. Wo sich Salomon ob der späten Unterstützung durch die pragmatische CDU im linken Freiburg wie ein Super- Schurke fühlen musste, fanden die jungen Sofafreunde offenbar die Lindner-Partei plötzlich so „yeah“. Am Ende holte Dieter Salomon Unterstützer im überwiegend älteren Teil eines Establishments, das in Freiburg per se sozial ist: Engagierte Menschen, die sich für Bildung, Tafeln und Erziehung einsetzen, aber wissen, wie der Marsch durch die Institutionen geht. Dagegen hatte Horn Leute auf seiner Seite, die offenbar alle diese Organe der Stadtgesellschaft ablehnen, keine offene Tür mehr am Rathaus finden oder einfach mal behaupten, dass die Bürgerbeteiligung hier nichts taugt. Was im übrigen leichter fällt, als sich die durchaus existierenden Prozesse real anzutun.
Dass Horn in nur wenigen Monaten so gut die Freiburger Seele durchschaute, lässt Etliches lernen über Wahlkampforganisation, vor allem aber über zentrale Lebenslügen im hiesigen Gefühl: In der „FAZ“ waren im medialen Schlussspurt Bewohner des ökologischen Einheitsviertels Vauban zitiert, denen die Stadt zu wenig Radwege bietet. Horn gewann Unternehmer, denen die Wirtschaftspolitik zwischen der vierten und fünften Radtour in einer Woche nicht mehr zusagt. Leute, denen vielzuviel und Leute, denen vielzuwenig gebaut wird. Und Bruddler, die finden, dass der OB an allem Schuld sei – bis hin zu radfahrfeindlichen Ampelphasen oder rollatorfeindlichem Kopfsteinpflaster. Das ist das Los des eigentlichen Kümmerers Salomon. Er hat es aber auch versäumt, das ganze Jahr 2017, in dem er als Einziger seine Kandidatur hinterlegt hatte, zu nutzen, um in die von ihm geschätzte Stadtgesellschaft etwas besser hineinzuhorchen. Und sich Unterstützer jüngerer Geburtsjahrgänge oder ungeahnter Milieus zu sichern. Für Martin Horn beginnt nach einer engagiert- souveränen Vorrunde nun das eigentliche Rennen: Der feindselige Ton einiger seiner Fans in den sozialen Medien sollte wieder zivilen Umgangsformen weichen.
In einem Gemeinderat mit 13 gewählten Gruppierungen wird er sich als Parteiloser nicht durchgehend auf die SPD verlassen können. Mit Veränderungskritikern aus dem Bürgerinitiativen-Umfeld wird er es schwer schaffen, die jährliche Zahl von mehr als 1000 Neubau-Wohnungen seines Vorgängers zu erreichen. Von der egozentrischen „Kulturliste“ kann er ebensowenig einen Push für Veränderungen erwarten wie von einer FDP, in der zwei Mandatsträger ihrer wechselseitigen Auslöschung im Gemeinderat entgegen arbeiten. Ironischerweise fällt seine Wahl auf den ersten Jahrestag der Wahl von Emmanuel Macron. Vergleiche verbieten sich, aber auch der war mit dem Grundwiderspruch einer Ein-Mann-Bewegung angetreten. Jetzt muss er den Spagat hinbekommen zwischen den horizontalen „gemeinsam“- Versprechen von einst und einer ziemlich vertikalen von-oben-Politik, wenn er Erfolge vorzeigen will. Am Wochenende, als Martin Horn gewählt wurde, sind Zehntausende Franzosen gegen Macron auf die Straße gegangen. Auch das gehört dazu, wenn Märchen Wirklichkeit werden.