Die digitale Revolution ist nach Ansicht der Freiburger Haufe Gruppe noch am Vorabend des Ausbruchs. Und sie wirft Fragen auf, wie ein Unternehmen auch nach innen die Strukturen und Prozesse der Start-up-Kultur aufgreifen kann. Mit spannenden Antworten.
Von Rudi Raschke
„Disruption“ ist eines der wichtigsten Schlagwörter der gegenwärtigen Wirtschaftswelt. Dabei geht es um neue Technologien, die alte komplett verdrängen (engl. „to disrupt – unterbrechen, zerreißen“). Beliebte Beispiele sind die Verdrängung klassischer Mobiltelefone durch das Smartphone, die digitale Fotografie, die Verfügbarkeit von Musik als Download statt auf physischen Tonträgern.
Nichts ist wie bisher, das „Alte“ führt allenfalls noch ein Nischendasein, es herrscht Revolution statt Evolution. Und damit auch vielerorts Ratlosigkeit rund um alte Geschäftsmodelle, wie auch die bisweilen diffuse Diskussion um „Industrie 4.0“ belegt.
In Südbaden kann das wohl niemand besser einschätzen als die Haufe Gruppe: Ein Unternehmen, das einen 100-prozentigen Handel mit Gesetzestexten auf Papier in ein Umsatzmodell mit Steuersoftware, Cloud-Buchhaltung, (digitaler) Weiterbildung und Solution-Lösungen verwandelt hat. Und das längst erkannt hat, dass Disruption im Äußeren auch einen radikalen Unternehmenswandel nach innen nach sich ziehen muss.
Denn vermutlich braucht es nichts anderes (neben viel Mut und Risikobereitschaft), wenn man neue Produkte entwickeln möchte – von denen man selbst oft nicht weiß, dass es in wenigen Jahren dafür einen Bedarf geben wird. Und sogar der Kunde in spe es noch nicht weiß. Steve Jobs, der Gründer von Apple, dürfte – von der Gestaltung neuer Benutzeroberflächen bis zum Shoppingtempel – der Serienweltmeister der disruptiven Disziplin gewesen sein.
Was das für die Haufe Gruppe mit ihren 18 Standorten und 1650 Mitarbeitern in der ganzen Welt bedeutet? Zunächst, dass es zwar historisch gute Voraussetzungen waren, als Haufe mit seinen guten Kundenzugängen zur Rechts- und Finanzwelt 1993 den Softwarehersteller Lexware eingliederte. Dass es aber heute angesichts extremer Produkt-Diversifikation und sterbender Hierarchie-Modelle in der digitalen Welt eine Neuerfindung der eigenen Organisation braucht.
Den heutigen Holding-Chefs Markus Reithwiesner, Birte Hackenjos und Martin Laqua wurde dies bereits zu Beginn der 90er Jahre klar, als es galt, einen Haufen IT-Tüftler in ein Krawatten-Unternehmen zu integrieren. Die heutige Herausforderung erfordert für Reithwiesner ein Denken in drei Horizonten, wie es Ende der 90er Jahre vom Berater-Konzern McKinsey bezeichnet wurde:
Strategisch geht es um nichts anderes, als über den ersten Horizont, in dem gegenwärtig noch ein Großteil des Umsatzes im Kerngeschäft getätigt wird, in die Erlösmodelle der Zukunft zu blicken: jenen Horizont, in dem sich neue Möglichkeiten bieten; beispielsweise Produkte, die es bereits gibt, nur noch nicht im eigenen Haus (H2 genannt) und jenen, in dem weitere neue Möglichkeiten und Bedürfnisse überhaupt noch entwickelt werden (H3).
Die Philosophie der Haufe Gruppe: allein mit dem Wissen um die Relevanz dieser Horizonte lassen sich diese nicht erschließen. Die Bereiche H2/H3 müssen nahezu unabhängig, mit der Mentalität von Start-ups, agilen Strukturen und weitgehend frei von Konzern-Hierarchien freigeistig erforscht werden. Inklusive sämtlicher Paradoxien und Ambivalenzen der neuen Entwicklerwelt.
Zum Geist der Disruption in der Unternehmensorganisation gehört bei Haufe zwar nicht, ohne Zeitlimit und Markttauglichkeit vor sich hinzuforschen. Aber es gehört viel „machen lassen“ dazu, erklärt Reithwiesner. Und Mut: „Ein ‚bisschen springen‘ geht nicht“, sagt er mit Blick auf manches Manöver, das es für die Überquerung des alten zu neuen Horizonten braucht.
Christian Steiger erklärt, dass es bei der Entwicklung ganz neuer Produkte und Dienstleistungen eben nicht darum gehe, nur auf die Kunden zu hören. Mit Blick auf die Disruptionsgeschichte sagt er: „Sonst hätten wir heute Superwachskerzen statt Glühbirnen.“ Steiger verantwortet in der Haufe Gruppe gemeinsam mit Isabel Blank den Bereich, der sich um die Horizonte Nummer 2 und 3 in einer eigenen Abteilung kümmert. Labor? Werkstatt? Start-up?
„Wir sind kein Experimentalstudio“, sagt Christian Steiger wenige Minuten, nachdem er einen im dritten Stock des Haufe-Gebäudes in Empfang genommen und an den Konferenztisch begleitet hat. Genau so etwas ist jedoch die Erwartung an einem Ort, wo quasi das kreative Labor des Software-Unternehmens blubbert. Steiger wird sie in den folgenden eineinhalb Stunden mehrfach widerlegen.
Über die Methoden, wie sich Software-Unternehmen ihre Entwicklungsfähigkeit erhalten, gibt es vermutlich ohnehin mehr Klischees als Tatsachen: Ein wenig Erwachsenen-Spielplatz mit Bällebad und Lounge-Ecken. Masseure und Obstkörbe werden empfangen, bei Google werden beispielsweise die Mitarbeiter in einer Art firmeneigenem Schulbus sicher und effizient zur Arbeit geshuttlet. Etwas infantil, nerdy und weltfremd, aber auch luxuriös.
Wer nicht im Silicon Valley und bei dessen Nachahmern in Berlin schaut, wie Kreativkultur gelebt wird, begebe sich zu einer Visite auf die Freiburger Haid: Hier lässt sich viel über die Theorien lernen, mit denen Produkte in der digitalen Welt entwickelt werden. Und auch über die Anwendung und welche Räume es dafür braucht. Steiger ist nach einer Viertelstunde in seinem Element und setzt beim Gespräch recht oft den Stift auf das Flipboard.
Jeder kann sich dabei ausmalen, wie schwer es ist, speziell die Zukunfts-Horizonte zu bespielen. Egal ob man wie die Haufe Gruppe digitale Produkte entwickelt oder mit anderem handelt. Braucht es eine Abteilung, die in Start-Up-Manier umher spinnt und sämtliche Grade des Scheiterns kennen lernt? Muss es ein eingeschworener Kreis von Entwicklern sein, die auf hohem Niveau forschen, aber Gefahr laufen, die Rückbindung an die Teams und Normal-Produkte des Gesamthauses zu verlieren?
Oder lässt sich das, was das Unternehmen ohnehin auszeichnet – eine hohe Qualität der Leistungen, gute Zufriedenheit der Kundschaft, ein gutes Verständnis, was der Markt braucht – auch in Abteilungen abseits des Tagesgeschäfts hervorbringen?
Christian Steiger war von 2000 bis 2008 bei Haufe und kam vor gut sechs Jahren nach einem Abstecher in die Selbstständigkeit wieder zurück. Inmitten einer recht modernen Begriffswelt (vom „ScrumMaster“ bis zum „Design-Thinking“) verwendet er oft Worte wie „Verbindlichkeit“, „Vertrauen“, „Selbstverantwortung“ und „Grundwerte“. Der Markt scheint dabei so fern wie auch unmittelbar vor der Haustür. Am Beispiel des „Cirque de Soleil“ aus den 80er Jahren illustriert Steiger, warum es manchmal sinnvoll sein kann, „dem Wettbewerb auszuweichen“. In diesem Fall: etwas Neues, einen neuen Zirkus zu kreieren, der eben nicht der bessere unter 100 Bestehenden sein will, sondern ein gänzlich anderer.
Die tägliche Arbeitsweise des Haufe-Andersseins bildet sich im Projektstand auf einer Tapete aus zahllosen Post-its an den Wänden ab: Handwriting-Überschriften erinnern an liebevolle alternative Speisekarten, darunter segeln zahlreiche Projekt-Schiffchen auf Leuchttürme zu. Aber: Das alles ist wenig träumerisch in zweiwöchige Planungszustände und einzelne Business-Stories von sechs Teams portioniert, es finden Review-Schauen statt, Marktnähe wird permanent angestrebt. Wenn sie da ist, werden Beta-Versionen mit ausgewählten Kunden getestet.
Der Gegenstand der Tests ist immer eindeutig umrissen: „Wir wissen, dass wir den Zeugnis-Manager erfinden und kein zweites Spotify“ sagt Steiger über die mögliche Entdeckung von Zufallsprodukten in seiner Abteilung.
Es ginge insgesamt um die „lernende Organisation“, kommentiert er den tief greifenden Wandel, den das Unternehmen mit seiner Horizonte-Welt angepackt hat. Und entgegen aller Start-up-Bedingungen, die hier herrschen, handle es sich keineswegs um ein Start-up: „Weil es insgesamt keine Exit-Story gibt: Wir bleiben ein Familienunternehmen, das keine Kapitalisierung sucht“, sagt Steiger über den Unterschied. Reithwiesner, der mit dem Vorstand diese Zukunftswerkstatt etabliert hat und sie von Spardiktaten fern hält, nennt genau diese Kultur als Grund, dass es die Haufe Gruppe nicht nur in die nächste Generation schafft. Sondern noch mehrere Generationen erleben soll.