Mit seinen Start-up Initiativen holt sich Sick junge Wissenschaftler ins Haus, die Zukunftstechnologien erforschen. Das Team für Deep Learning veredelt Sensortechnologie für Industrieproduktion, Qualitätssicherung und Logistik.
Von CHRISTINE WEIS
Start-ups haben eigentlich einen schweren Start: von der Finanzierung bis zur Kundenakquise ist die erste Wegstrecke meist steinig. Ganz anders geht es den 15 Start-up Initiativen des Waldkircher Sensorherstellers Sick. Etwa 100 Mitarbeiter arbeiten in den Start-ups vernetzt mit Kollegen im Konzern an neuen Technologien. „Infrastruktur, Produktion, Kunden und auch eine leckere Kantine – das ist alles schon da. Wir haben die Freiheit, uns voll und ganz auf unsere Forschung zu konzentrieren“, sagt Dominic Mai vom Start-up-Team Deep Learning. Der Informatiker wurde an der Freiburger Uni im Fachbereich Bildverarbeitung promoviert und ist seit drei Jahren dabei.
In einer stillgelegten Werkshalle konnten sich die jungen Wissenschaftler erstmal räumlich austoben: Kicker, Boulderwand und Sofas sind ja fast schon obligatorisch für die Starterszene. Die Arbeitsplätze sind in kreisförmigen Inseln angeordnet, zum Austausch rollt man mit den Stühlen rasch in die Mitte. Präsentationen und Besprechungen finden im Halbrund statt – eine Art kleines Theater mit Sitzstufen aus Pressspan. Obwohl Corona bedingt die Halle gerade eher unbelebt ist, herrscht trotzdem eine emsige Atmosphäre und man spürt den frischen Wind, den die jungen Teams in die Sick-Halle bringen. Dieser mag anziehend wirken. So finden hier auch andere betriebsinterne Meetings statt. Selbst die Vorstände tagten bereits auf den Holzstufen.
Die Start-ups gehören mittlerweile zum festen Bestandteil des Konzerns. „Die Teams sind unabhängig, aber ihr Zuhause ist das Unternehmen. Sie agieren losgelöst von der betrieblichen Produktentwicklung, sind jedoch in den einzelnen Geschäftsbereichen verankert und arbeiten mit diesen gut zusammen“, sagt Andreas Behrens, Leiter des Start-ups Deep Learning.
Deep Learning Algorithmen machen Sensoren effizienter
Dominic Mai bezeichnet Deep Learning (DL) als Spielart des Machine Learnings. Er erklärt es am Beispiel Bilderkennung so: Bei Machine Learning lernt das System aus Beispielen. Erkennt das System ein Hundebild als solches, wird es belohnt – sagt es fälschlicherweise „Katze“, so wird es bestraft. Bei DL ist dieses System der menschlichen Informationsverarbeitung nachempfunden – ein sogenanntes „neuronales Netz“. Wurde dieses Netz nun mit tausenden bekannten Bildern trainiert, erkennt es auch ungesehene Objekte zuverlässig. Der 38-Jährige veranschaulicht das Verfahren anhand eines Kamerasensors, der eine gekritzelte Handzeichnung eines Weinglases zu 86 Prozent als solches erkennt. „Das bemerkenswerte ist, dass sich mit dieser Technik viele Probleme lösen lassen, die relevant für Kunden unterschiedlichster Branchen sind“, berichtet Mai. Derzeit arbeitet er als Teil der Deep Learning-Initiative daran, die Infrastruktur zu schaffen, durch die DL-Algorithmen Sick-Sensoren veredeln können.
Deep Learning im Einsatz bei der Paket- oder Gepäcksortierung und der Holzindustrie
Mit DL werden die Kamerasensoren leistungsfähiger und genauer. Aktuell kommt DL bei Sick unter anderem in der optischen Qualitätsinspektion zum Einsatz. „Wir brauchen die KI dort, wo es schwierig wird. Sie erkennt Abweichungen“, sagt Behrens. So erfasst die schlaue Optik etwa, wenn der Barcode eines Pakets auf dem Förderband von einem anderen Paket verdeckt ist. Damit werden falsche Auslieferungen verhindert und die Paketsortierung effizienter.
Behrens belegt die Wirkkraft mit Zahlen: Bei einem Durchlauf von 50.000 Paketen in einer Stunde ist ein Prozent Fehlerquote eine ganze Menge. Für das lernfähige Programm wurden 100.000 Bilder von Paketen eingelesen, bis das System so intelligent wurde, dass es jetzt selbstständig erkennt, wenn zum Beispiel zwei Pakete übereinander liegen. „Single Item Verification“ nennt sich diese Entwicklung, wofür SICK 2019 beim Landeswettbewerb „100 Orte der Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ einen Preis ergatterte. Das Programm kann auch feststellen, ob Paketstücke beschädigt sind. Langfristiges Ziel ist es, einen vollautomatischen Sortierprozess zu generieren. Neben der Versandlogistik kann die Technik ebenfalls bei der Gepäcksteuerung etwa an Flughäfen eingesetzt werden.
Eine weitere Kamera mit DL-Funktionalität wird in der Holzindustrie angewendet. Auch dafür steht im Start-up Bereich ein Prototyp zum Testen. Die Kamera erkennt die Holzmaserung, und je nach Muster wird eine Sortierung zur Weiterverarbeitung vorgenommen. Was vormals das menschliche Auge erledigte, kann die Maschine übernehmen. Damit werden Mitarbeiter von monotonen Tätigkeiten befreit und können interessantere Aufgaben übernehmen – so ist zumindest die positive Lesart. Das System ermöglicht zudem eine höhere Produktivität, indem es für eine verbesserte Materialausnutzung sorgt.
Kunden von der Funktionalität von KI überzeugen
„Es gibt bei den Kunden Berührungsängste mit der neuen KI-Technik und viel Erklärungsbedarf. Dabei machen wir deutlich, dass keine Programmierleistung notwendig ist“, sagt Produktmanager Daniel Nazimek. „Die Komplexität muss man nicht verstehen, sondern entscheidend ist, dass Produktions- oder Logistikprozesse einfacher und effektiver werden und klar wird, wo der Mehrwert liegt.“ Umgekehrt müssen auch die Entwickler wissen, welche Anforderungen und Bedürfnisse der Kunde hat. Das Prinzip des durch künstliche Intelligenz spezialisierten Sensors lässt sich jedenfalls auf viele Produkte wie beispielsweise Reflexions-Lichtschranken oder Ultraschallsensoren anwenden.
Für Kunden mit Programmieranspruch hat Sick ebenfalls eine Entwicklung im Köcher: „Mit unserem Sensor-Software-Konzept AppSpace haben wir eine maßgeschneiderte Applikationslösung, die sich an individuelle Aufgabenstellungen und Bedürfnisse anpassen lässt“, sagt Andreas Behrens. Man darf also gespannt sein, was die Sensor-Schmiede zukünftig noch entwickelt und zu den rund 40.000 Produkten dazukommt.
Nächstes Jahr feiert Sick sein 75-jähriges Bestehen. Der Konzern beschäftigt mehr als 10.000 Mitarbeiter; der Jahresumsatz 2019 lag bei rund 1,8 Milliarden Euro. Angefangen hat alles bescheiden: Firmengründer Erwin Sick entwarf den Lichtvorhang nach Kriegsende in einer Holzbaracke, wenn man so will einem Start-up – noch ohne Infrastruktur.
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