Ellen Dietrich war zwanzig Jahre Fotochefin der Wochenzeitung Die Zeit in Hamburg. Sie arbeitet heute als freie Redakteurin und lebt seit 2017 in Gengenbach, im zweihundert Jahre alten Haus ihrer Vorfahren. Hier schreibt sie über ihr Bild der Ortenau.
VON ELLEN DIETRICH
Nicht nur Kindheitserlebnisse prägen Herz und Seele, auch die Bilder jener Landschaft, in der man aufgewachsen ist. Glücklich, wer in der Ortenau seine Wurzeln hat. Es heißt, da sei der Herrgott daheim. Ich will das gerne glauben. Vorbei sind die furchtbaren Kriege, Verwüstung, Armut und Hunger in dieser Gegend. Das Himmelreich kann lieblicher nicht sein als dieses anmutige Wunderland zwischen Achern, Oppenau, Wolfach, Ettenheim und Kehl.
Ein Kaleidoskop aus Wiesen, Äckern, Reben, Obstbäumen, sanften Hügeln und verwunschenem Wald. Hier tanzen die Wolken Pirouetten, im mediterranen, milden Wind, der durch die Burgundische Pforte aus dem Rhônetal herbei weht. Kein Fotograf, kein Maler vermag das magische Lichtspiel zu dokumentieren, wenn die Abendsonne das Firmament in ein Flammenmeer verwandelt.
Grün ist die kleine Welt zwischen Acher, Rench, Kinzig, Schutter und Rhein, wo man die Natur umarmen kann, wenn sonst niemand da ist. Die Ortenau ist ein irdischer Garten Eden, eine Kraftquelle für Mensch und Tier. Kein Wunder, dass der Wolf um die Ecke lugt, steht die Tür dieser Idylle doch jedem offen. Eben deshalb wird es zunehmend heikel und die Ortenau zum „Trompe-l’œil“, einem Trugbild, sofern man wagt, genauer hinzuschauen. Plötzlich ist die andere Wahrheit sichtbar, die dunkle Rückseite des bezaubernden Bildnisses. Nicht der böse Wolf bedroht die Region, die bis ins 16. Jahrhundert „Mortenau“ hieß. Damals notierte ein Chronist: „Die Mortnaw, so geheißen, weil dort gar vill Mordsund Diebsgesindel hauset …“
Strukturwandel ist lebenswichtig, auch unbequeme Entscheidungen, weil der Klimawandel seine Krallen zeigt. Aber die Gier des „homo oeconomicus“ nach freiem Land, seine mangelnde Ehrfurcht vor der Schöpfung sind bedrohlicher für den Globus als jeder technische Fortschritt und ein Diebstahl an den kommenden Generationen. Ich kenne, zum Glück, nur Bürgerinnen und Bürger, die sich der Zerbrechlichkeit ihres Paradieses bewusst sind. Viele stellen gar die Sinnfrage: Noch mehr Autos, Schnellstraßenlärm und Versiegelung der Umgebung durch monströse Logistik-Lagerhallen? Noch mehr fantasielose Appartement-Klötze aus Beton und turmhohe Schallschutz-Wände bis in die Täler hinein?
Ein Zurück gibt es kaum, vor allem nicht für ein verlorenes Stückchen Streuobstwiese im fragilen Ökosystem. Deshalb ringen Verantwortungsbewusste um jeden Zentimeter Boden, sobald ein neues Baugebiet ausgelobt wird. Nicht jeder Acker wird verkauft, wenn ein lukratives Angebot lockt. Bürgerbegehren kämpfen für Nachhaltigkeit. Schotterhalden sind verboten und Schrebergärten chic.
Hitzeresistente Bäume werden gepflanzt, Industriebrachen für Wohnraum aktiviert und Müll gesammelt. Und nicht in jedem Forst dürfen Mountainbiker herumkurven. Mir macht das Mut. Die Ortenau darf nie wieder „Mortenau“ genannt werden. Denn ein schöneres Fleckchen Erde gibt es nicht.