Warum unsere Möglichkeiten schneller wachsen als die Zeit dafür. Und wie Sie mit dem eigenen Kompass ins Neue Jahr starten – mit einem Selbst-Coaching zum Jahresende.
VON UDO MÖBES
„Wow – ist dieses Jahr nicht wieder schnell rumgegangen?“ Wer kennt diesen Satz nicht? Wenn man in diesen Wochen beim Taxifahren, im Zugabteil oder mit dem Nachbarn ins Gespräch kommt, dann kommt man sehr schnell genau darauf.
Dabei passiert mir dann auch, dass ich mir selbst zuhöre, diesen Jahresend-Kalauer zum Besten zu geben! Man erntet dafür ein zustimmendes Nicken. Für manche ist es vielleicht nur eine Floskel ohne tieferen Sinn? Aber manchmal schwingt auch oft etwas Wehmut mit. Fühlt man sich von seinem Umfeld und seinen Verpflichtungen getrieben?
Man schiebt das ganze Jahr etwas vor sich her und muss sich dann wieder am Ende eingestehen, es wieder nicht geschafft zu haben. Aber das Leid ist schnell geteilt, wenn man mitbekommt, dass es anderen schließlich auch so geht.
Wenn alles schneller geht, müsste ich doch mehr Zeit haben?
Vor knapp zwei Jahren durfte ich in Grafenhausen Hartmut Rosa mit einem interessanten Vortrag über sein Buch „Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung“ lauschen. Rosa, in Jena Professor für Soziologie und in Grafenhausen aufgewachsen, hat unter anderem erforscht, dass auch mit immer schnelleren Medien unsere to-do-Listen immer noch länger werden.
Beispiel: Heute schreibt man eine E-Mail in zehn Minuten. Im Unterschied zu einem Brief früher in 60 Minuten. Nur: Wo bleiben diese 50 Minuten Zeitersparnis? Das reichhaltige Unterhaltungs- und Informationsangebot, sagt Rosa, führe dazu, dass es an Wünschen und Erwartungen nicht mangelt.
Beispiele gefällig? Ich wollte schon immer mal diesen und jenen Kurs gemacht haben, diese Stadt besuchen, eine Kreuzfahrt machen, noch eine Sprache lernen und mir dieses und jenes kaufen? Mehr schlafen, gesünder essen, mehr Sport…
Die These lautet: Das Angebot an Möglichkeiten wächst schneller als die Geschwindigkeitsvorteile durch neue Medien. Wir laufen unseren Wünschen immer hinterher. Verstärkt wird das noch, da man medial immer vor Augen habe, was man noch nicht hat oder noch nicht erreicht hat.
Dabei zeigt die Glücksforschung, dass die Zufriedenheit über Materielles ohnehin nicht so lange anhält, wie wir uns das erhoffen. Unabhängig davon, dass es aus ökologischer Sicht Ressourcen erforderlich macht, ohne einen anhaltenden Effekt. Bekanntes Beispiel dafür: Selbst Lottogewinner landen nach sechs bis zwölf Monaten wieder beim Glücksgefühl, welches sie vor dem Gewinn hatten.
Was man von der Familie Batzli lernen kann?
Rosa erzählte an dem Abend die Geschichte von der Familie Batzli. Die Familie bewirtschaftet eine Schweizer Alm. Die Jahreszeiten bilden den Rahmen, in welchem der Betrieb läuft. Der Tagesablauf wird von der Natur bestimmt. Da es auf ihrer Hütte keinen Strom gibt, geht es bei Sonnenuntergang bald darum, auch zu Bett zu gehen.
Schließlich startet der Betrieb mit den ersten Sonnenstrahlen in aller Frühe. Die Batzlis leben im Rhythmus und Einklang mit der Natur. Haben die Batzlis deswegen weniger vom Leben? Sind sie nicht so glücklich, weil sie weniger erleben als Stadtmenschen? Kritiker sagen jetzt vielleicht: Aber das hat doch nichts mit unserem Leben zu tun? Warum eigentlich nicht?
Ist denn wirklich alles, mit dem wir uns den Tag über beschäftigen und ablenken auch so wichtig? Oder ist bei Überangebot und 24/7 nicht gerade erst recht wichtig, den eigenen Kompass zu schärfen? Wo können wir die Glotze oder das Licht selbst abschalten? Wann und für wen wollen wir über Handy erreichbar sein? Always on?
Das sagt sich natürlich viel einfacher als es ist! Rosa empfiehlt, sich mehr mit Resonanz – den Beziehungen zu seiner Umwelt – auseinander zu setzen. Das könnte konkret bedeuten: Wie geht es mir, wenn ich mit alten Freunden zusammen bin. Gemeinsame Zeit mit meiner Familie verbringe?
Wenn ich auf einer Bank im Wald sitze und in die Ferne schaue. Welche Resonanz löst etwas in mir aus? Vielleicht findet man so heraus, welche Begegnungen und Erlebnisse mir persönlich viel geben – manche vielleicht auch zum Null-Tarif.
The same procedure as every year?
Was würden die Fitness-Studios nur tun, wenn es den Jahresanfang und die guten Vorsätze nicht geben würde? Einige von uns kennen sicherlich die Routine, am besten mit einem Stapel von guten Vorsätzen ins Neue Jahr zu starten. Das ist ja auch schon ein Kompass-Ansatz.
Ins Grübeln kann man kommen, wenn es immer wieder die gleichen Vorsätze sind. Meistens hindert das nicht an einem „Jetzt aber!“ für die nächste Runde. Warum läuft uns dieser Kompass-Ansatz immer wieder aus dem Ruder? Vermutlich liegt das daran, dass es meistens zu viele und radikale Vorsätze sind!
Ist es die Lösung nicht mehr zu navigieren und ohne Vorsätze zu starten? Vermutlich nicht. Einen Versuch wert ist, sich zu fokussieren: Habe ich das Ziel, welches ich bei einem Thema erreichen möchte, konkret genug vor Augen? Habe ich ein Vorgehen festgelegt, welches mir Klarheit gibt, was wirklich zu tun ist? Ehrliche Einschätzung: Hat das Vorgehen in meinem Alltag auch eine Chance, umgesetzt zu werden (z.B. vorher kein Sport, neu dreimal pro Woche)?
Von zu viel Ambition und Härte bleibt am Ende nicht viel übrig. Außer einem noch größeren Schuldgefühl, es (wieder) nicht geschafft zu haben. Auch die Strategie, die Latte hochzulegen, da man nur die Hälfte schafft, ist nicht zielführend. Wer möchte hier wen überlisten? Die Empfehlung ist: Lieber sehr fürsorglich mit sich selbst umgehen. Sich klar werden, was wirklich wichtig ist. Die Prüffrage: Ist es wirklich realistisch, dass ich es schaffe und will ich das wirklich? Optimal ist, am Monatsende zu prüfen, was man davon schon erreicht hat.
Bastelanleitung Jahresend-Selbst-Coaching (60 Minuten):
- Einen schönen Moment für mich selbst schaffen (netter Ort, etwas Ruhe, Blatt Papier, Stift, optional: Heissgetränk oder Glas Rotwein 🙂
- Frage: Welche zurückliegenden Ereignisse und Erlebnisse in diesem Jahr kommen mir zuerst in den Sinn? (maximal drei bis fünf aufschreiben und um jedes einen Kreis ziehen)
- Forschung: Was genau war das Besondere an diesen Momenten für mich und für andere? (dazu schreiben: gibt es dazu Emotionen und Gefühle)?
- Navigation: Die Ergebnisse auf mich wirken lassen. Fehlt noch was? Sehe ich ein Muster? Was heisst das nun für mich? Welche Priorität möchte ich im kommenden Jahr Personen/Initiativen/Themen einräumen, die mir persönlich wichtig sind? (Kreise ankreuzen und hervorheben)
- Absprache: Was konkret kann ich im Neuen Jahr dafür tun, daß ich wieder Ähnliches erlebe? (Faustregel: je konkreter und kleiner der Schritt, desto wahrscheinlicher die Umsetzung! Aufschreiben und mit dem Handy fotografieren)
- Fertig: Austrinken. Loslegen. (…und Ende Januar überprüfen)
Udo Möbes ist selbstständiger Berater, Trainer und Business- Coach und betreibt seit 2015 mit seiner Frau Ulrike Peter das Seminarhaus „Saiger Lounge“ im Schwarzwald. Er begleitet Change-Prozesse in Unternehmen und coacht Geschäftsführer-Teams oder einzelne Führungskräfte. Für das Digital-Unternehmen Virtual Identity mit 180 Mitarbeitern in Freiburg, München und Wien war er zuvor 16 Jahre lang an der Spitze tätig, davor arbeitete er 11 Jahre für die Haufe Mediengruppe. Udo Möbes wird an dieser Stelle regelmäßig seine Erfahrungen mit Coaching- Themen an unsere Leser weitergeben.